Analyse EU zwischen Selbstblockade und unbeugsamen Wallonen

Brüssel (dpa) - Von Aufbruchstimmung ist nicht mehr viel zu spüren. Fünf Wochen ist es gerade her, da demonstrierten die restlichen 27 EU-Mitglieder nach dem sommerlichen Brexit-Schock ihren Optimismus.

Mit einer „Bratislava-Roadmap“ wollte sich die zerstrittene Union wieder zusammenraufen.

Jede Krise sei auch eine Chance, hieß es in der slowakischen Hauptstadt beim ersten EU-Treffen ohne Großbritannien. Den enttäuschten Bürgern wollten die Staats- und Regierungschefs zeigen, wofür die Europäische Union tatsächlich gut ist.

Nun steckt die EU noch tiefer in der Klemme als zuvor. Angela Merkel hatte sich vom regulären Herbstgipfel ein klares Zeichen gegen die seit langem anhaltenden blutigen Angriffe des syrischen Regimes und vor allem der russischen Luftwaffe auf die nordsyrische Stadt Aleppo gewünscht. Direkt nach beinahe erfolglosen Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Nacht zum Donnerstag in Berlin verlangte sie von ihren Amtskollegen, endlich Haltung gegen den Kremlherrscher zu zeigen.

Am Ende kann die Kanzlerin kaum damit zufrieden sein, was zu den blutigen Kämpfen im Abschlussdokument des Gipfels steht. Immerhin sei sich die EU einig, dass alle verfügbaren Optionen genutzt werden müssten, falls die Situation anhalte, konstatiert sie nüchtern. Dies sei „das Minimum dessen, was man erreichen konnte“. Die 28 Staats- und Regierungschefs hatten ihre Wortwahl entschärft und sich nicht auf eine Drohung mit „restriktiven Maßnahmen“ einigen können. Viele Menschen dürften so ein Signal der Uneinigkeit kaum verstehen.

Auch mit den Brexit-Briten ist die Rest-EU inhaltlich nicht wirklich weitergekommen. Große Fortschritte waren zwar nicht zu erwarten, denn Großbritannien will erst bis März den formellen Ausstiegsprozess aus der EU einleiten. Vorher sollen die eigentlichen Gespräche über den EU-Austritt nicht beginnen.

Doch Regierungschefin Theresa May machte bei ihrer Gipfel-Premiere klar, dass sie in den Verhandlungen nicht so schnell klein beigeben werde. Das Selbstbewusstsein der Britin war am zweiten Gipfeltag kaum zu übersehen: sie kam im knallrot-auffälligen Kleid. Der EU droht ein monatelanges Gezerre - nicht gerade eine Werbung für die Union.

Nächster ungelöster Problempunkt: Die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Zwar gibt es hier leichte Fortschritte. Doch in so grundsätzlichen Fragen wie der von Merkel verlangten gerechten Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsländer bewegen sich vor allem die besonders störrischen Wortführer in Osteuropa keinen Millimeter. Und auch die Frage, wie mit der bei Migranten und Flüchtlingen wieder beliebteren Fluchtroute über das Mittelmeer umgegangen wird, gibt es höchstens eine langfristige Lösung.

Und dann ist da der Ceta-Zoff. Ein kleines Völkchen in Belgien widersetzt sich der großen Gemeinschaft: die unbeugsamen Wallonen wollen unbedingt noch Vorteile aus dem eigentlich unterschriftsreifen Handelsabkommen herausholen. Selbst die EU-Botschafter müssen am Donnerstagabend zusammenkommen, doch auch sie können den Konflikt zunächst nicht ausräumen. Mit einem Kompromissvorschlag gibt sich die wallonische Regionalregierung nicht zufrieden.

Die EU mit ihren gut 510 Millionen Einwohnern ist in einem ihrer wesentlichen Bereiche, der Handelspolitik, durch den belgischen Landesteil blockiert. Eigentlich sollte das Abkommen am Donnerstag kommender Woche auf einem EU-Kanada-Gipfel perfekt gemacht werden. Ein endgültiges Scheitern dürfte eine massive Schwächung der Handelsgroßmacht EU bedeuten - die Union würde wegen der Wallonen global nicht mehr als verlässlicher Verhandlungspartner dastehen.

Eine Lösung fand der Brüsseler Gipfel nicht. Kurz nach Ende des Treffens wurde ein vom Sender VRT verbreitetes Video bekannt, in dem die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland sagt, sie sehe derzeit keine Chance für Ceta und reise in ihre Heimat zurück. Die EU-Kommission sah Ceta dagegen noch nicht am Ende.

Österreichs Regierungschef Christian Kern jedenfalls sagte, die Ceta-Debatte sei ein großes Problem, das den Zustand der EU zeige. „Das war der letzte Beweis dafür, dass es so nicht weiter geht“, analysiert er frustriert.

Am frühen Freitagmorgen wird die Kanzlerin nach fast zehn anstrengenden Verhandlungsstunden gefragt, ob die EU überhaupt noch verhandlungsfähig sei. Im Gesicht sind die Spuren der Nacht zu lesen, als Merkel mit für sie typischen Satzkonstruktionen Einblick in ihre Gedankenwelt gewährt. „Ich glaube schon“, antwortet die Kanzlerin zurückhaltend und klingt so, als wolle sie die Fragestellerin beruhigen. „Ich bin ja heute mit einer Menge Ergebnisse gekommen, nicht? Aber ich sag mal: bei uns dauert's manchmal.“

Merkel lässt einen kleinen soziologischen Exkurs folgen. Es sei schließlich manchmal auch in Deutschland so: „Die brauchen sehr lange. Dafür sind dann aber auch große Teile der Bevölkerung mitgenommen.“ Im Gegensatz zu anderen „politischen Gebilden“, „in denen werden sehr knappe Entscheidungen gefällt. Da fühlt sich aber ein Teil dann auch völlig ausgestoßen.“ Man müsse als Politiker eben „manchmal auch ein bisschen Zeit investieren“. So richtig nach Aufbruchstimmung klingt das auch bei ihr nicht.

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