Alle gegen einen EU der 27 und London gehen auf Konfrontationkurs

Brüssel (dpa) - Wenn das kein Signal ist: Die 27 Staats- und Regierungschefs sitzen beim Brexit-Sondergipfel kaum eine Minute zum Mittagessen zusammen, da ist es schon passiert. „Leitlinien einstimmig angenommen“, twittert Ratspräsident Donald Tusk.

Alle gegen einen: EU der 27 und London gehen auf Konfrontationkurs
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Und Kanzlerin Angela Merkel berichtet wenig später, die Runde habe ihre schnelle Einigung „durch Applaus kundgetan“. Es ist, als ob sich die Europäische Union angesichts des britischen Austritts neu erfunden hätte. Vorbei mit dramatischen Nachtsitzungen, ermüdenden Debatten und offenem Streit?

Bestimmt nicht. Dass der Antrag Großbritanniens auf Austritt aus der Union die 27 Bleibenden zusammengeschweißt hat, ist nicht zu übersehen. Aber die Reaktion aus London macht zugleich klar: Die Briten lassen sich davon nicht einschüchtern. Premierministerin Theresa May lehnt weiter den Kern dessen strikt ab, was die anderen in Brüssel beschlossen haben: nämlich erst über die Trennung zu verhandeln und dann über die Zukunft.

Wenig Eindruck in London machten offensichtlich die freundlichen Worte der Gipfelteilnehmer, die unisono ihr Interesse an guten Beziehungen zu den Briten beteuerten. Verhandlungsführer Michel Barnier sagte angesichts der gemeinsamen Marschroute der 27: „Diese Einheit richtet sich nicht gegen das Vereinigte Königreich.“

Doch ein Blick in die einstimmig verabschiedeten Verhandlungsleitlinien zeigt, welches Motto beim Brexit-Poker seit Samstag wirklich gilt: Alle gegen einen. Die abtrünnigen Briten sollten nicht bestraft werden, versichert zwar Frankreichs scheidender Präsident François Hollande. Und Merkel weist den Vorwurf zurück, man wolle sich gegen London verbünden.

Allerdings dürfe Großbritannien, wie Hollande sagt, nach dem Austritt keine besseren Bedingungen genießen als bisher: „Dieser Brexit wird zum Besten Europas ausgehandelt.“ Am Ende geht es auch ums Geld. 60 Milliarden Euro sind im Gespräch, auch wenn sich an diesem Samstag niemand auf diese Summe festlegt.

Erste Priorität hat für die 27 bleibenden EU-Staaten erklärtermaßen, die Lage der rund 3,2 Millionen Unionsbürger in Großbritannien - unter ihnen 100 000 Deutsche - abzusichern. Schon diese Regelungen werden kompliziert, denn den Brexit wählten die Briten nicht zuletzt als Abwehr gegen Zuwanderer. Immerhin signalisierten die Briten hier Kompromissbereitschaft.

Die Liste heikler Rechtsfragen ist aber noch viel länger, wie die Leitlinien für das Scheidungsverfahren deutlich machen. Und in weniger als zwei Jahren soll alles unter Dach und Fach sein. Die Frist läuft am 29. März 2019 ab.

Wird die Einigkeit der 27 vom Samstag bis dahin halten? „Die britische Regierung wird vielleicht alles tun, um die 27 Länder zu spalten. Wir sollten nicht in diese Falle gehen“, warnte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Sonderwünsche sind schon absehbar: Irland und das heikle Verhältnis zum britischen Teil der Insel, Spanien und das britische Gibraltar, Zypern und die britischen Soldaten, die vielen Polen mit Arbeit in England.

Aber erst einmal feiern die 27 ihre Einigkeit. Ratspräsident Tusk verbucht das als Erfolg und Stärkung seiner Position. „Herr Tusk war sehr glücklich“, berichtet Parlamentspräsident Antonio Tajani. Beim März-Gipfel in Brüssel stand Tusk noch schwer unter dem Beschuss der polnischen Ministerpräsidentin Beata Szydlo, die eine Wiederwahl ihres Landsmanns verhindern wollte. Diesmal ist auch die Polin gut gelaunt und auf Konsens gestimmt.

Die demonstrative Einigkeit könnte schnell vorbei sein, wenn es um die Vergabe der begehrten EU-Agenturen geht, die bisher in London untergebracht sind. Und Kanzlerin Merkel warnt grundsätzlich vor zu viel Euphorie: Schließlich habe Europa noch andere Probleme als den Brexit. Wie schon am Donnerstag im Bundestag sagt sie: „Wir dürfen unsere andere Arbeit nicht vergessen. Die Welt wird sich in den nächsten zwei Jahren weiterentwickeln.“

Nur am Rande kommt diesmal das schwierige Thema Türkei zur Sprache. Denn dazu müsste auch die britische Premierministerin am Tisch sitzen. Beim nächsten regulären Gipfel im Juni ist sie wieder dabei. Wenn sie die Unterhauswahl am 8. Juni gewinnt.

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