SPD-Parteitag Die Selbstzweifel-Partei-Deutschlands

Berlin (dpa) - Martin Schulz muss selbst noch einmal ran. Die Parteigranden haben mit großer Nervosität zugeschaut, wie etwa die „No-GroKo“-Jusos in der stundenlangen Redeschlacht scharf und analytisch mit ihren Bedenken auftrumpfen.

SPD-Parteitag: Die Selbstzweifel-Partei-Deutschlands
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Kommt es zum Gau für Schulz, schlägt die Partei die Tür für Gespräche mit der Union zu? Um 18.33 Uhr geht der Parteichef ans Rednerpult und ins volle Risiko. „Ich bitte Euch, nicht dem Vorschlag von Kevin zu folgen. Gebt uns diese Chance“, ruft Schulz. Kevin, das ist der neue Jusos-Boss Kevin Kühnert. Der junge Berliner, erst ein paar Tage im Amt, schwingt sich beim Parteitag zum großen Gegenspieler von Schulz auf.

In knapp acht Minuten löst Kühnert mehr Begeisterung aus als Schulz in 80. Er wolle, dass „noch was übrig ist von dem Laden“, wenn der Nachwuchs mal die Geschäfte führen werde. Der 28-Jährige rüffelt den Kurs von Schulz. „Vielleicht war es doch nicht der beste Wahlkampf aller Zeit und vielleicht auch mal nicht das beste Wahlprogramm seit Willy Brandts Zeiten.“

Schulz begeht jetzt am Abend, wo der Moment der Entscheidung naht, nicht den Fehler von Sigmar Gabriel. Der machte die Jusos 2015 nieder, als sie wagten, den damaligen Chef infrage zu stellen - die Quittung waren 74 Prozent für Gabriel.

Schulz sagt zu Kühnert und die „GroKo“-Widersacher im Saal: „Das war eine Debatte auf hohem Niveau, geprägt von gegenseitigem Respekt.“ Er sei stolz darauf, dass es sich seine SPD so schwer mache. Aber es lohne sich, mit der Union etwa um faire Mieten und eine bessere Pflege zu ringen. Zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Tag gibt Schulz der Partei sein Versprechen, es werde keine einsamen Entscheidungen auf dem Weg zu einer Regierung geben.

Und teilt dann noch gegen seinen einstigen „Freund“ Gabriel aus: „Die Zeiten, wo ein Parteivorsitzender hier Stallordern ausgegeben hat, die sind vorbei.“ Schulz will die „GroKo“-Gegner nicht knechten, sondern umarmen, mitnehmen auf dem schwierigen Weg. Als Beruhigungspille übernimmt die SPD-Spitze in letzter Minute den Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen, im Januar auf einem Sonderparteitag (und nicht hinter verschlossenen Türen auf einem Konvent, wie ursprünglich geplant) über mögliche Koalitionsverhandlungen mit der Union abstimmen zu lassen.

Die Rechnung geht schließlich auf. Mit großer Mehrheit sagen die Delegierten Ja zu „ergebnisoffenen Gesprächen“. Und dann steht Schulz selbst zur Wahl. Wie stark wird er für den Absturz bei der Wahl auf historisch schlechte 20,5 Prozent abgestraft? Der Ex-Buchhändler aus Würselen bekommt knapp 82 Prozent - wohl ein ehrliches Ergebnis.

Die 100 Prozent von Mitte März empfand Schulz auf dem Höhepunkt des Rummels um seine Person schnell auch als Fluch. „Jetzt habt ihr mich mit 81,94 Prozent ausgestattet. Deshalb danke ich für diesen Vertrauensvorschuss.“ Jene, die seit März ihren Glauben in ihn verloren haben, verspricht er, alles zu tun, um das Vertrauen zurückzugewinnen.

Schon am Vormittag hatte Schulz in seiner Rede auf das Prinzip Demut gesetzt. Ihm steckten wie allen in der Partei die 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl in den Knochen. Erst der „Schulz-Hype“, dann der Absturz. Er wisse, viele Menschen in und außerhalb der SPD seien von ihm enttäuscht, sagt der Mann, der als 100-Prozent-Held startete und als Kanzlerkandidat unterging. „Weil ich all das weiß, bitte ich für meinen Anteil an dieser bitteren Niederlage um Entschuldigung.“ Er könne die Uhr nicht zurückdrehen: „Aber ich möchte als Parteivorsitzender meinen Beitrag dazu leisten, dass wir es besser machen.“

Knapp 80 Minuten später weiß aber niemand so richtig, wie denn die Strategie des Vorsitzenden für die Partei in dieser schicksalhaften Situation aussieht. Nur ansatzweise zeigt er auf, wie und warum überhaupt mit der Union gesprochen werden soll. Die ganze SPD wirkt derzeit wie eine Partei ohne Plan. Symptomatisch dafür steht der Eiertanz um die große Koalition - dem Bürger kann kaum vermittelt werden, was man genau will.

Jetzt fordert man zum Beispiel einen Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränkten Schutz - dabei sagen führende Genossen, dass wenig die „kleinen Leute“ so verunsichert wie das Flüchtlingsthema. Und die Union wird da kaum mitmachen. Es werden die Vereinigten Staaten von Europa gefordert (was die CSU sofort niedermacht und Schulz eine Spaltung Europas vorhält) oder eine einheitliche Krankenversicherung, gegen die die Union jetzt schon Sturm läuft.

In der SPD wird für den Falle der Fälle ohnehin nicht mit einer Regierung vor März gerechnet - auch weil es einen zwei Millionen Euro teuren, bis zu drei Wochen dauernden Mitgliederentscheid geben würde. Jetzt kommt noch ein Sonderparteitag obendrauf, Kostenpunkt eine weitere Million.

Intern rumort es sowieso. Olaf Scholz treibt Schulz vor sich her, ohne ihn zu stürzen. Da stänkert Fraktionschefin Andrea Nahles gegen Außenminister und Umfrage-Liebling Gabriel, auch zwischen Schulz und Gabriel geht nicht mehr viel. Einer der fähigsten Politiker der SPD könnte auf dem Abstellgleis landen.

Dabei hat gerade Gabriel - bei allen seinen Defiziten und Manövern, die ihn in der SPD zum Buhmann gemacht haben - gezeigt, wie eine verzagte Partei mit einem Plan begeistert werden kann. Im November 2013 in Leipzig hält er eine denkwürdige Rede, listet auf (Doppelpass, Mindestlohn), was die SPD für Wähler und Land verschenken würde, wenn man in die Opposition geht.

Wo Gabriel in Leipzig mit einer fulminanten Rede das „GroKo“-Ruder herumriss, geht Schulz in Berlin noch nicht einmal darauf ein, warum unter seiner Führung hier eine 180-Grad-Wende hingelegt wurde. Erst wurde unter Riesenjubel die große Koalition am Wahlabend ausgeschlossen, dann noch einmal einstimmig in der Parteispitze, als die Jamaikaverhandlungen gescheitert waren.

Dann kam aber Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Schulz ließ sich von der Wende überzeugen. Er weiß: Neuwahlen wären „Selbstmord“ - man traut ihm keine weitere Kanzlerkandidatur zu, und der SPD droht ein noch schlechteres Ergebnis. Katastrophal wäre es, wenn die AfD vor dem selbst ernannten Bollwerk der Demokratie landen würde.

Manche Spitzengenossen sind von Schulz' Auftritt im smarten Multimedia-Würfel „City Cube“ der Berliner Messe enttäuscht, andere sagen, er habe dem gigantischen Druck ordentlich standgehalten. Doch die Zweifel, Schulz jetzt zu folgen, sind in Berlin nicht kleiner geworden.

Er ist Vorsitzender der „Selbstzweifel- und Soufflee-Partei-Deutschlands“, deren Wahlergebnisse im Bund seit 1998 dramatisch zusammengefallen sind. „Wir haben nicht nur dieses Mal 1,7 Millionen Stimmen verloren, sondern 10 Millionen seit 1998 - die Hälfte unserer Wählerschaft“, räumt Schulz zerknirscht ein.

Was sagt es aus über einen Vorsitzenden, der nicht klar erklären kann, warum man die Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlängern soll? Der um seine Wiederwahl mit den Worten bettelt, ein Vorsitzender dürfe nie gewählt werden, „nur weil es keine Alternativen zu geben scheint“ (was Scholz, Schwesig und Nahles anders sehen, aber nicht sagen).

Nahles aber zeigt Führungswillen und tut das, was eigentlich der Job des Vorsitzenden ist. „Mich springt hier Angst an“, empört sie sich über die aus ihrer Sicht weinerliche Partei, die Angst habe, sich „auf dem Altar des Regierens“ zu opfern. „Angst kann kein Maßstab sein“, ruft Nahles. Zuvor beklagte sie bereits, die „GroKo“-Gegner hätten sich in ihrer Ecke „festgerammelt“. Es sei doch klug und chancenreich, mit einer angezählten Kanzlerin zu reden.

Merkel hielt der SPD noch im Oktober vor, diese sei nicht regierungsfähig. „Sind Sie eigentlich auf absehbare Zeit verhandlungsfähig?“, koffert Nahles nun zurück. „Die SPD wird gebraucht. Bätschi, sage ich dazu nur. Und das wird ganz schön teuer!“ Die SPD ist auf einem schmalen Grat unterwegs. Das Kalkül ist, die roten Linien dunkelrot zu färben, die Preise hochzutreiben, um Merkel in der Union weiter zu schwächen, wenn die „GroKo“ kommt. Scheitern die Verhandlungen, hätte die SPD immerhin ein angeschärftes Profil für kommende Neuwahlen.

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