Analyse Die jungen Wilden und eine fast normale Kanzlerin

Brüssel (dpa) - So weit ist Brüssel nicht von Berlin entfernt. Das hat für Angela Merkel den Vorteil, dass sie um 13.00 Uhr in der EU-Hauptstadt noch vor die Journalisten treten kann, und am Nachmittag schon bei den Sondierungsgesprächen über eine Jamaika-Koalition dabei ist.

Analyse: Die jungen Wilden und eine fast normale Kanzlerin
Foto: dpa

Es hat aber auch die Konsequenz, dass in Brüssel sehr genau verfolgt wird, wie es denn nun in Berlin mit der Kanzlerin weitergeht. „Kompliziert“ sei die Lage zuhause, soll Merkel auf entsprechende Nachfragen geantwortet haben.

Sie hat es eilig, nach Berlin zurückzufliegen. Gerade zehn Minuten nimmt sie sich am Freitag Zeit für die Pressekonferenz. Dass sie nun aber bei diesem EU-Gipfel, der sich vor allem mit der Türkei, den Flüchtlingen und den komplizierten Brexit-Verhandlungen befasst, geschwächt oder machtlos oder sonst eingeschränkt gewesen wäre, kann niemand behaupten. Beim Arbeitsfrühstück am Freitagmorgen sitzt Merkel im weißen Blazer am Kopf des großen ovalen Konferenztischs, wie die Chefin.

Dass der mögliche Koalitionspartner FDP schon öffentlich über ein vorzeitiges Ende ihrer Kanzlerschaft spekuliert, wird hier kaum zur Kenntnis genommen. Natürlich müssten künftig FDP und Grüne einbezogen werden, wenn es um konkrete EU-Beschlüsse geht, sagt Merkel. Aber: „Die Beschlüsse heute sind so allgemein, dass sich dagegen natürlich niemand wenden wird.“

„Hier reist eine normale Bundeskanzlerin an“, hieß es vor dem Gipfel aus Merkels Umfeld. Selbst nach der konstituierenden Sitzung des Bundestags in der nächsten Woche sei sie weiter geschäftsführend im Amt, mit rechtlich denselben Befugnissen. Sicherheitshalber bittet Merkel die EU-Partner um Geduld.

Eine ganz normale Kanzlerin. Nach der ersten Arbeitssitzung kurz nach Mitternacht sieht sie müde aus. „Guten Morgen“, sagt sie, ein bisschen ironisch, aber die späte Stunde ist nicht wirklich ungewöhnlich in Brüssel. Dann zeigt sich Merkel pragmatisch wie immer: Türkei-Hilfen kürzen, aber in „verantwortbarer Weise“. Auch beim Brexit glaubt sie an den Erfolg. „Ich habe da eigentlich überhaupt gar keinen Zweifel, wenn wir geistig alle klar sind.“ Wenn es mal zwei oder drei Wochen länger dauert, dann ist das eben so.

Es kommt Merkel dabei zugute, dass nach den hochfliegenden Reformplänen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nun wieder Nüchternheit einkehrt in der Welt der Europäischen Union. Künftig sollen mehr Entscheidungen auf Chef-Ebene fallen, mehr Effizienz ist das Ziel. „Echte Lösungen für echte Probleme“ will Ratspräsident Donald Tusk.

Beispiel Türkei: Von Abbruch der Beziehungen, wie sie noch im deutschen Wahlkampf gefordert wurde, ist nicht mehr die Rede. Das wäre auch ohne Aussicht auf Erfolg gewesen, denn die notwendige Einstimmigkeit beim Gipfel war dafür nicht zu erreichen. „Ich habe dafür geworben, das Gespräch mit der Türkei zu suchen“, sagt Merkel. Trotz aller Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit und die inhaftierten deutschen Staatsbürger.

Beispiel Brexit: Die Fortschritte seien ermutigend, aber noch nicht ausreichend, heißt es. Merkel nennt die von Premierministerin Theresa May geforderte Übergangszeit von zwei Jahren „eine interessante Idee“. Aber darüber könne erst in Phase zwei der Verhandlungen gesprochen werden. Immerhin sollten sich die verbleibenden 27 aber schon einmal Gedanken darüber machen, wie sie sich denn die Zukunft der Beziehungen zu London vorstellen.

Emmanuel Macron bleibt der Star auf der europäischen Bühne, er darf auch schon mal 40 Minuten beim Abendessen reden. Aber noch ein anderer junger Wilder könnte beim nächsten Mal auch offiziell dabei sein. Der österreichische Wahlsieger Sebastian Kurz trifft schonmal am Rande des Gipfels wichtige Leute. Er stehe für einen pro-europäischen Kurs, sagt er, mit welcher Koalition auch immer.

Ist Macron sein Verbündeter, wird Kurz gefragt. „Ich sehe es positiv, dass er den Willen und die Ambitionen hat, die Europäische Union zu verändern.“ Er freue sich auf die Zusammenarbeit, aber natürlich auch auf die mit der Kanzlerin.

„Die CDU/CSU ist unsere Schwesterpartei“, sagt Kurz, und dann gleich hinterher: „Wir sind sehr froh, dass wir bei dieser Wahl massiv zulegen konnten.“ Das kann Merkel nun nicht behaupten. Wenn etwas ihre Position auf europäischer Bühne schwächt, dann ist es wohl eher das schlechte Ergebnis der Union bei der Bundestagswahl als die ungeklärte Koalitionsfrage.

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