Die Flüchtlinge und der Kampf der Kanzlerin

Berlin (dpa) - Angela Merkel kämpft. Die Kanzlerin sagt es selbst. Sie nennt die Flüchtlingskrise eine der größten Herausforderungen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die Flüchtlinge und der Kampf der Kanzlerin
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Vor einem Millionen-Publikum der ZDF-Sendung „Was nun, Frau Merkel?“ am Freitagabend bekennt sie: „Es geht darum, dass ich in der Tat kämpfe. Kämpfe für den Weg, den ich mir vorstelle. Für meinen Plan, den ich habe, an den Fluchtursachen anzusetzen, aus Illegalität Legalität zu machen. Und dafür mit aller Kraft einzustehen.“ Sie bittet die Bürger um Geduld. Und dann ihr Mantra: „Und ich glaube, dass wir das schaffen werden.“

Merkel hat in den vergangenen Wochen viel Kritik einstecken müssen. Zeitweise konnte man den Eindruck haben, dass ihr langjähriger Vertrauter und zwischenzeitlich schwächelnder Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit seinem harten Kurs gegen Flüchtlinge die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin infrage stellt. Und dass er und die Polit-Schwergewichte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer einen Machtkampf gegen sie anstrengen.

Merkel hält nun dagegen - und dennoch vermeidet sie die Konfrontation. Sie schwenkt in Teilen auf de Maizière ein und bezeichnet Schäuble mit einem Lächeln als „eine Klasse für sich“. Dass er die vielen Flüchtlinge mit einer Lawine verglich und suggerierte, Merkel habe diese ausgelöst, quittiert sie mit einem Verweis auf das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie betont jedes Wort: „Jeder Einzelne hat seine Würde.“ Sie denke bei Menschen nicht an Lawinen-Bilder. Über Seehofer sagt sie schlicht, ihr Vertrauen in ihn „ist weiter vorhanden“.

So wenig Merkel solche Fernsehauftritte behagen, so sehr weiß sie um die Notwendigkeit, der Republik ihren Kurs zu erklären, der im August eine Euphorie über die neue deutsche Willkommenskultur auslöste und mittlerweile vielen Menschen in Deutschland Angst macht. Deswegen geht sie zum zweiten Mal in fünf Wochen ins Fernsehen. Nach der ARD diesmal im ZDF. Sie bleibt dabei: Keine Obergrenze für Flüchtlinge, Deutschland soll ein freundliches Gesicht zeigen, die Freiheit in Europa durch den Wegfall von Grenzkontrollen darf nicht verloren gehen. Aber auch: Flüchtlinge müssen sich an die Regeln halten, es müssen weniger werden. Sie bleibe aber „absolut“ und „natürlich“ bei ihrem Kurs. Es habe nicht das Herz über den Verstand gesiegt.

Es geht aber ein Riss durch die Union, die Koalition, das Land und Europa. Nach dem neuen ZDF-„Politbarometer“ glauben 50 Prozent der Befragten nicht, dass Deutschland die vielen Flüchtlinge verkraften kann. 47 Prozent folgen dem „Wir schaffen das“ der Kanzlerin. Gut die Hälfte der Befragten beurteilt Merkels Flüchtlingspolitik eher schlecht als recht. Die 61-Jährige, im August noch unangefochten und abermals mit Umfragehöchstwerten ausgestattet, verliert an Vertrauen. Ein Tiefschlag für die CDU-Vorsitzende. Sie steht unter Druck, wohl so stark wie nie in ihrer zehnjährigen Kanzlerschaft.

Stunden vor ihrem TV-Auftritt tritt sie mit Australiens Premierminister Malcolm Turnbull vor die Presse. Sie stellt sich hinter de Maizières Anordnung, zum Dublin-Verfahren auch bei Syrern zurückzukehren und diese in die Länder zurückzuschicken, wo sie zuerst EU-Boden betraten. Im August war dieses Verfahren für Syrer unter dem Jubel der Flüchtlinge und weltweiter Anerkennung für Merkel ausgesetzt worden. Merkel hatte erklärt, diese Regelung habe keinen Sinn mehr. Nun sagt sie: „Ich finde es deshalb richtig, weil wir uns ja einem fairen Verteilmechanismus in Europa nähern wollen. Wir brauchen eine faire Lastenteilung.“

Damit ist das Septembermärchen wohl vorbei, als es so aussah, dass Deutschland in einem humanitären Akt den Andrang vieler Hunderttausender Flüchtlinge menschenwürdig und ohne jegliche Obergrenze meistern kann. Seither verschärfte die große Koalition die Asylgesetzgebung drastisch. Viele Menschen finden die schärfere Linie von de Maizière gut. Dem CDU-Mann bescheinigen 45 Prozent der Befragten eine eher gute Arbeit. Im September, als er noch als planlos galt, waren es 34 Prozent.

Geschwächt wie selten reist die Kanzlerin am Sonntag zum G20-Gipfel in die Türkei, der vom Krieg in Syrien und der dramatischen Flüchtlingslage geprägt sein dürfte. Merkel ist auch auf EU-Ebene angeschlagen, sie bekommt nicht die Unterstützung, die Deutschland zur Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme bräuchte. Die vereinbarte Verteilung von 160 000 Menschen läuft nur schleppend an, ebenso die Zahlung zugesagter Gelder. Ihre „größte Enttäuschung“ sei, „dass es so schwer ist, in Europa zu einer fairen Lastenverteilung zu kommen“.

Dass Merkel über die Flüchtlingskrise stürzt, glauben aber nur 19 Prozent der Befragten. In der Union heißt es: Beim Parteitag in Karlsruhe im Dezember werden wieder alle zusammenrücken. Merkel versichert den Bürgern, dass sie nicht hinschmeißen, sondern die volle Legislaturperiode bis zur Wahl 2017 durchziehen werde. Sie sagt über sich: „Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff.“ Sie will es so gut machen, dass die deutsche Demokratie über europäische Grenzen hinaus berühmt wird. Vielleicht gebe es dann weniger Kriege. Ob sie auch 2017 wieder für das Kanzleramt kandidiert, lässt sie offen.

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