Einen neuen Amri verhindern Deradikalisierung in der Haft in Italien

Mailand (dpa) - Einst war Anis Amri nur ein Kleinkrimineller. Dann saß er in Italien eine Haftstrafe ab. Am 19. Dezember 2016 steuerte er einen Lastwagen in friedlich feiernde Menschen auf dem Berliner Breitscheidplatz.

Einen neuen Amri verhindern: Deradikalisierung in der Haft in Italien
Foto: dpa

Ein Kämpfer des Islamischen Staates sei für den Anschlag verantwortlich gewesen, meldete die Terrormiliz.

Die Frage, wie sich Amri radikalisierte, beschäftigt seitdem Ermittler, Fachleute und die Öffentlichkeit. Es gibt Hinweise darauf, dass es genau der Gefängnisaufenthalt in Italien war, der Amri zum Fundamentalisten gemacht hat. Nicht zuletzt deshalb hat die italienische Regierung ein Programm gestartet, um der Radikalisierung von muslimischen Insassen in den Gefängnissen vorzubeugen.

„Wir wollen entschieden gegen Terroristen vorgehen und ebenso entschieden gegen die Ursachen von Radikalisierung“, sagt Gennaro Migliore, Staatssekretär im italienischen Justizministerium und zuständig für den Strafvollzug.

Sein Ministerium hat deshalb mit der Union muslimischer Gemeinden in Italien (UCOII) vereinbart, gemeinsam staatlich zertifizierte Imame in die Gefängnisse zu schicken. Als „Glaubensberater“ sollen sie den Insassen Wissen über den Koran vermitteln. Die UCOII ist die größte muslimische Organisation des Landes.

Die Idee dahinter sei, den Einfluss von „Selfmade-Imamen“ in den Gefängnissen zurückzudrängen, erklärt Migliore. Einige davon seien „explizit auf Bekehrungen und Schlimmeres fokussiert“. Insofern sei es auch Ziel des Programms, die Bekenntnisfreiheit von Insassen zu schützen.

„Das ist Pionierarbeit für ganz Europa“, sagt Youssef Sbai, Mitglied und Gründer der UCOII. Er hat für das Programm Freiwillige angeworben und schult außerdem Gefängniswärter darin, die Zeichen von Radikalisierung bei Häftlingen zu erkennen. Von rund 6000 praktizierenden Muslimen in Italiens Gefängnissen seien 365 derzeit unter verstärkter Beobachtung, berichtet Migliore.

Ortstermin im Gefängnis Mailand-Bollate. Es ist ein Donnerstagmorgen im Dezember, sieben Männer sitzen um einen Tisch in einem hell beleuchteten Raum. Die Atmosphäre ist entspannt, die sieben unterhalten sich auf arabisch mit zwei verschleierten Frauen, stellen Fragen, hören zu. Aufseher vom Gefängnispersonal gibt es nicht. „Wir reden darüber, was in unserer Gesellschaft passiert - dass Muslime, die aus dem Gefängnis kommen, zu Terroristen werden“, erklärt eine der Frauen, Amina Saleh.

„Das ist kein Islam, wirklich nicht“, sagt Jafar, einer der Gefangenen. „Wenn man den Koran liest, kann man Menschen nicht töten oder in die Luft sprengen, im Gegenteil.“

Saleh und ihre Kollegin Soraya Houli stammen beide aus Algerien und haben sich freiwillig gemeldet, für die UCOII wöchentlichen Islamunterricht in Bollate zu geben. Beide leben seit mehreren Jahrzehnten in Italien. In der Sitzung heute geht es um das Konzept des freien Willens und daraus resultierende persönliche Verantwortung. „Wir sprechen über schwierige, zutiefst philosophische Themen“, sagt Houli. „Aber wir müssen darauf achten, immer in einfachen Worten zu sprechen - viele der Leute haben noch nicht mal die Grundschule abgeschlossen.“

Die meisten Teilnehmer sind mittleren Alters. Nur zwei der sieben Männer sind Anfang 20. Die beiden kamen zu spät und schweigen weitgehend während des Gesprächs. Viele andere Häftlinge, die sonst zum Unterricht kommen, schwänzen heute, weil ein Journalist mit am Tisch sitzt. Normalerweise kämen 20 bis 25 Gefangene, sagt Houli. Ab Anfang kommenden Jahres soll wegen großer Nachfrage ein zweiter Kurs aufgemacht werden. Knapp 80 Häftlinge haben sich insgesamt für den Islamunterricht angemeldet.

Es komme zu Radikalisierung, „weil es keine Anleitung gibt“, ist sich Rabah, ein anderer Gefangener, sicher. „Wir wissen grob, was im Koran steht, aber ohne Anleitung denken sich die Leute selbst aus, wie sie die Aussagen zu verstehen haben.“ Mithilfe der beiden Frauen komme man leicht zu einem toleranten Verständnis. „Sie erklären uns viele Dinge, auch wie man die eigenen Emotionen und Gedanken kontrolliert.“

Ob das neue Programm Erfolg hat, muss sich noch zeigen. Zunächst wurde es dieses Jahr in acht von rund 200 Gefängnissen in Italien gestartet. „Die, die kommen wollen, kommen“, sagt Houli dazu. Das lässt die Möglichkeit offen, dass diejenigen, die Deradikalisierung am meisten nötig hätten, lieber in ihren Zellen bleiben - die Teilnahme ist schließlich freiwillig. Wirklich radikalisierte Muslime seien ihr bislang nicht untergekommen, fügt sie hinzu. Was würde dann passieren? „Wir sind da, um zu verstehen, um zu helfen - aber am Ende müssen wir Häftlinge melden, die sich nicht ändern wollen.“

Es ist auch dieser Ansatz, der Patrizio Gonnella am Erfolg des Programms zweifeln lässt. Der Juraprofessor ist Vorsitzender von Antigone, einer Organisation für Häftlingsrechte. Häftlingen dürfe kein Grund gegeben werden, „zu glauben, dass der Staat gegen sie ist“. Die beste Prävention sei eine gute Atmosphäre im Gefängnis, mit Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten für die Insassen. „Gehirnwäsche“ funktioniere nicht.

Anis Amri dürfte auch solche Möglichkeiten während seiner dreieinhalbjährigen Haftstrafe nicht genossen haben. Das Gefängnispersonal bezeichnete ihn als gefährlich. Insgesamt zwölf Mal wurde er verwarnt, weil er sich gewalttätig verhalten hatte. So glitt er wohl in die Radikalisierung ab. Die führte dazu, dass er zwölf Menschen tötete - um dann genau hier, in Mailand, selbst erschossen zu werden.

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