Analyse: Piraten mit neuem Chef

Neumünster (dpa) - Die Tagesordnung sah inhaltliche Positionsbestimmungen am Samstag gar nicht vor, aber das brennende Thema Rechtsextremismus hielt sich nicht an die Planung des Piraten- Parteitags in Neumünster.

Als ein - weithin unbekanntes - Mitglied vor laufenden Kameras erklärte, man könne mit Holocaust-Leugnern diskutieren, schritt die Versammlungsleitung ein: Eilig wurde eine Resolution gegen Rechts verlesen und praktisch einstimmig angenommen: Das Leugnen des Holocaust widerspreche den Grundsätzen der Partei.

Wenig später bestimmten die Mitglieder Bernd Schlömer zum neuen Parteichef, er hatte sich zuvor klar gegen Rechts positioniert. Das hat ihm sicher genützt, denn die Stimmung in Neumünster war eindeutig: Die Piraten wollen den Verdacht loswerden, sie seien vielleicht zu tolerant gegenüber Rechten. Ganz berechenbar sind sie zwar noch nicht. Aber der Wunsch, professioneller als bisher Politik zu machen, war doch spürbar. Es geht nicht nur um die kommenden Landtagswahlen, längst auch schon um die Bundestagswahl 2013.

Nicht ganz so viele Mitglieder wie erhofft hatten den Weg in den hohen Norden gefunden, etwa 1500 waren es am Samstag. Zunächst waren 2000, vielleicht 2500 erwartet worden. Eine beeindruckende Zahl ist es dennoch, der bisherige Parteivize Bernd Schlömer zieht gar einen Vergleich mit dem chinesischen Volkskongress. Die Piratenpartei Deutschland ist auf dem Weg in die Zukunft, mit viel Rückenwind aus Wahlen und Umfragen.

Besonders bunt kommt die junge Truppe nicht daher, eher in dunklen Farben, Freizeitkleidung, und längst nicht immer über den Laptop gebeugt, wie ihnen nachgesagt wird. Fast exotisch nur die scheidende Geschäftsführerin Marina Weisband, im bodenlangen Kleid, Blume im Haar. „Einen geilen Vorstand“ wünscht sie sich - selbst will sie aber nicht dabei sein. „Gegen Oktober ist mir das ganze um die Ohren geflogen“, gesteht sie in ihrem Tätigkeitsbericht. „Ich habe nicht alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe.“

Viele hatten sich gefragt, wie die unerfahrene Partei diesen wuseligen Riesenkongress wohl bewältigen würde. Aber am ersten Tag war schnell klar: mit erstaunlicher Professionalität - und hin und wieder durchaus autoritärem Ton. „Das ist hier kein Kaffeekränzchen“, ruft Philipp Brechler vom Organisationskomitee in den Saal, als es mal wieder ziemlich laut wird: rote Locken, rote Backen, korpulent und sehr bestimmend. Als dann der alte Vorstand entlastet wird, springen die Mitglieder von ihren Sitzen, jubeln und feiern sich selbst - die strengen Regeln für einen Augenblick vergessend.

Auf ihrem zehnten Parteitag haben die Piraten schon einige Übung in Disziplin. Vor eineinhalb Jahren gab es in Chemnitz noch heftige Turbulenzen: Persönliche Querelen und immer neue Anträge zur Verfahrensordnung prägten den ersten Tag des Programmparteitags. Sogar zu Tätlichkeiten kam es damals - ein Parteimitglied wurde von der Versammlung ausgeschlossen, weil er einem anderen das Bändchen für die Zulassung zum Parteitag vom Arm gerissen hatte.

Das gehört zur Vergangenheit der schnell lernenden Partei. In Neumünster darf jeder reden und Anträge stellen. Aber Versammlungsleiter Jan Leutert hat die Sache fest im Griff. Die Redezeit wird auf eine Minute begrenzt. „Basisdemokratie heißt, dass jeder seine Meinung äußern kann“, sagt Leutert. „Aber das kann auch in kompakter Weise geschehen.“

Basisdemokratie funktioniert also. „Die Frage ist nur, was machen die Piraten, wenn sie diese Phase hinter sich haben“, sagt der Hamburger Parteienforscher Joachim Raschke, der den Aufstieg der Grünen seit den frühen 80er Jahren wissenschaftlich begleitet hat. Er ist an diesem Samstag als Gast nach Neumünster gekommen, um sich ein Bild zu machen von der Partei, die sich aufgemacht hat, die deutsche Politik aufzumischen. „Sehr formalistisch und administrativ“ findet er die Versammlung - zumindest am ersten Tag. „Der politische Gehalt ist nicht so leicht erkennbar.“

Vieles ist (noch) anders als bei den anderen Parteien. Etwa 100 Mitglieder nächtigten auf Luftmatratzen und Isomatten in einer angrenzenden Halle. Beistand gab es auch für die, denen das zu laut war: am Eingang eine Box mit gelben Ohrstöpseln. „Der Bezirksverband Bayern wünscht eine gute Nacht“, steht auf dem Gefäß.

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