Analyse: Merkels Präsidentenschwund

Berlin (dpa) - Für Angela Merkel ist der Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff eine tiefe Niederlage und eine Chance auf noch mehr Macht zugleich. Es kommt darauf an, wie sie SPD und Grüne in die Nachfolge-Frage einbindet.

Entsprechend ihres international vielerorts anerkannten Euro-Krisenmanagements könnte sie sich auch im eigenen Land als Fels in der Brandung präsentieren. Und sollte ein neuer Präsident - oder erstmals eine Präsidentin - im Einvernehmen mit SPD und Grünen ins Schloss Bellevue einziehen, würde die CDU-Chefin nebenbei noch ihre Koalitionsoptionen für die nächste Bundestagswahl erweitern. Ihr jetziger, schwer angeschlagener Bündnispartner FDP ist in Alarmstimmung.

Nie hatte die Union in dieser zweiten Amtszeit von Merkel so gute Umfragewerte wie derzeit mit 38 Prozent. Der Erfolg wird der Kanzlerin zugeschrieben. Und er wird unter Politikern nicht zuletzt gerade mit der Wulff-Misere begründet. Denn zahlreiche Verfehlungen und Rücktritte von Männern der Regierungsparteien CDU, CSU und FDP rückten die Kanzlerin in das Licht einer offenbar selten gewordenen Spezies bodenständiger Spitzenpolitiker ohne Dramen und Skandale.

Merkel wird aber nachgesagt, dass sie unter Druck geratenen Weggefährten nur solange die Treue hält, bis ihre eigene Reputation in Gefahr gerät. In Wulffs Affäre um eine zu starke Nähe zu Unternehmern galten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen das deutsche Staatsoberhaupt als rote Linie für Merkel. Nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover auf Aufhebung von Wulffs Immunität am Donnerstagabend gaben Unionsabgeordnete Wulff keine 24 Stunden mehr, um selbst die Reißleine zu ziehen. Danach wäre er quasi von eigenen Leuten zurückgetreten worden, hieß es.

Dennoch darf die Wulff-Misere auch als Schaden für die Kanzlerin gewertet werden. Merkel hatte den Parteikollegen und früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten unbedingt als Nachfolger von Horst Köhler haben wollen, der Ende Mai 2010 völlig überraschend das Amt des Staatsoberhaupts hinwarf. Auch Köhler war Merkels Kandidat.

Beide Rücktritte sind beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik. Und beide fallen in Merkels zweite Amtszeit als Kanzlerin innerhalb von nur gut eineinhalb Jahren. Eine dritte persönliche Schlappe wird sie unter allen Umständen vermeiden wollen.

Wulff erschien der Kanzlerin als sicherer Kandidat, weil er manch niedersächsische Polit-Schlacht geschlagen hatte und mehr Stehvermögen als Köhler versprach. Dass er trotz aller Turbulenzen dann so eisern an seinem Amt festhalten würde, hat Merkel wohl selbst überrascht. Und sie hat dem Vernehmen nach auch nicht für möglich gehalten, auf welch politisch riskantes Geflecht mit Wirtschaftsbossen sie bei Wulff treffen würde. Über Merkel sind auch nach mehr als 20 Jahren in der Politik keine heiklen Verquickungen zwischen Amt, Geschäftswelt und privaten Interessen bekannt.

Die Kanzlerin hatte in den vergangenen Wochen immer wieder betont, sie habe keinen Plan für den Fall von Wulffs Rücktritt. Geglaubt hatte man das der Strategin Merkel eher nicht. Es wäre auch beunruhigend, würde eine Regierungschefin keine Vorsorge treffen. So verkündete Merkel am Freitag wenige Minuten nach Wulffs Rücktrittserklärung, dass Union und FDP die Oppositionsparteien SPD und Grüne in die Nachfolgesuche einbeziehen wollen. Nach Köhlers Rücktritt Ende Mai 2010 hatte sie SPD-Chef Sigmar Gabriel mit seinem Vorstoß zu einem gemeinsamen Kandidaten noch abtropfen lassen. Die kühle SMS wurde öffentlich.

Merkels Koalitionspartner FDP befindet sich nun in einer heiklen Lage. Er pocht unverdrossen auf einen Alleingang der Koalition trotz deren äußerst knapper Mehrheit von nur wenigen Stimmen in der Bundesversammlung. Würde Merkel mit Rot-Grün einen neuen Präsidenten küren, könnte dies den Anfang vom Ende der schwarz-gelben Koalition einläuten. Einen Bruch des Bündnisses werden die Liberalen in der Präsidentenfrage aber kaum riskieren. Ihre Aussichten bei den Landtagswahlen im März im Saarland und im Mai in Schleswig-Holstein sind miserabel - auch im Bund sähe es schlecht aus.

Vor Wulffs Rücktritt war in Parteikreisen gewitzelt worden, Merkel solle doch im Falle von Wulffs Rückzug gleich beide Ämter bekleiden. Es ist nun die Kanzlerin, die statt Wulff bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremischer Gewalt am kommenden Donnerstag sprechen wird. Und es gilt als nicht mehr ausgeschlossen, dass sie nach einer Frau im höchsten Staatsamt sucht. Vielleicht hat sie Gefallen an einer Art Matriarchat. Noch nie hat Deutschland eine Bundespräsidentin gehabt. Das zeitgleich zu einer Bundeskanzlerin wäre eine kleine Revolution.

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