Analyse: Kommen weitere Täter aus Sicherungsverwahrung frei?

Berlin (dpa) - Der verurteilte bayerische Sexualstraftäter hat nicht mehr viel von dem Richterspruch aus Straßburg. Der 76-Jährige sitzt mittlerweile in einer psychiatrischen Anstalt, aus der es für ihn keinen Ausweg mehr geben dürfte.

Dabei entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) in seinem Interesse. Von der Kritik am deutschen Recht könnten aber andere Schwerverbrecher profitieren. Erneut hat der EGMR Deutschland wegen der umstrittenen Sicherungsverwahrung für Schwerverbrecher verurteilt. In drei Fällen war die Sicherungsverwahrung einfach verlängert worden, obwohl die Täter eigentlich damit rechnen konnten, nach maximal zehn Jahren freizukommen. In einem anderen Fall musste ein Sexualverbrecher in die Sicherungsverwahrung, obwohl ihm diese Möglichkeit im Urteil gar nicht angedroht worden war. Gerade diese nachträgliche Sicherungsverwahrung steht schon lange in der Kritik.

Zwar liegen die nun behandelten vier Fälle zeitlich vor der jüngsten Reform der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Dass der EGMR aber erstmals deutlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung anprangerte, ruft auch viele Kritiker der Neuregelung wieder auf den Plan. Nach heftigem Streit hatten sich Union und FDP auf einen Kompromiss geeinigt. Dazu gehört, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälle abgeschafft wird. Für Täter, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes am 1. Januar straffällig wurden, ist sie aber noch möglich. Und derzeit sitzen immerhin noch rund 20 Menschen in nachträglicher Sicherungsverwahrung.

Der Tübinger Rechtswissenschaftler Jörg Kinzig, interpretiert das jüngste Urteil aus Straßburg jetzt so, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung generell nicht zulässig ist. „Es spricht sehr viel dafür, dass auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Bundesrecht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt“, sagte Kinzig der Nachrichtenagentur dpa. Sollte sich dies in weiteren Urteilen des EGMR bestätigen, gebe es die „interessante Frage“, was mit den Tätern geschehe, die noch in nachträglicher Sicherungsverwahrung sitzen. „Ich bin der Auffassung, dass sie dann in der Regel entlassen werden müssen“, sagte Kinzig.

Bereits im Zuge eines EGMR-Urteils vom Dezember 2009 kamen einige Täter aus der Sicherungsverwahrung frei, obwohl sie noch als gefährlich galten. Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Bevölkerung - die Freigelassenen werden heute zum Teil rund um die Uhr von der Polizei beobachtet, damit die Bevölkerung vor ihnen sicher ist. Die FDP verwies am Donnerstag darauf, dass sie mit der Reform aber auch ein Instrument geschaffen habe, um gerade solche Täter wieder sicher unterzubringen - vorausgesetzt, sie sind „psychisch gestört“. Ob das aber so einfach geht, bezweifeln viele. Selbst das Justizministerium räumte ein, dass diese Regelung nur bei wenigen greifen dürfte.

Klar ist, dass es nach den neuen EGMR-Urteilen keine automatischen Freilassungen gibt. Über die konkreten Fälle müssen deutsche Gerichte entscheiden. Die aber urteilten im vergangenen Jahr höchst unterschiedlich: Manche Oberlandesgerichte entschieden, Täter zu entlassen. Andere meinten, sie müssten hinter Gittern bleiben. Über die grundsätzliche Frage, in welchem Verhältnis die Europäische Menschenrechtskonvention eigentlich zum nationalem Recht steht - welche Regelung von beiden also ausschlaggebend ist - verhandelt das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich Anfang Februar.

Für den Rechtsexperten Kinzig ist klar: „Recht und Praxis der Sicherungsverwahrung stehen erneut auf der Probe.“ Auch über mögliche Änderungen der Reform vom Jahresbeginn müsse der Gesetzgeber jetzt noch einmal nachdenken.

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