Analyse: Erst ins Gefängnis, dann ins Stadion?

Berlin (dpa) - Einen Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft hat Joachim Gauck bereits besucht. Ende März führte ihn seine erste Auslandsreise als Bundespräsident nach Warschau, wo er Polen als „das europäische Land der Freiheit“ würdigte.

Dem zweiten Gastgeber Ukraine zeigt Gauck dagegen jetzt die kalte Schulter. Eine Einladung zu einem Treffen europäischer Staatschefs in Jalta auf der ukrainischen Halbinsel Krim lehnte er ab.

Eine offizielle Begründung des Präsidialamts gab es zwar nicht, der Anlass für die Absage liegt aber auf der Hand. Sechs Wochen vor der Europameisterschaft werden der Regierung in Kiew massive Menschenrechtsverletzungen und „Rachejustiz“ vorgeworfen. Die Symbolfigur der Orangenen Revolution, die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko, sitzt in Haft. Während Polen als Speerspitze des osteuropäischen Freiheitskampfes gilt, steht die Ukraine nun als Land der enttäuschten Freiheitshoffnungen da.

Für seine Entscheidung erhielt Gauck am Donnerstag viel Applaus aus allen politischen Lagern. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) nannte die Entscheidung richtig, der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich sprach von einem „starken politischen Signal“ und der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), sagte, die Entscheidung setze „Maßstäbe“.

Ob sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an diesen Maßstäben orientieren wird, wenn es um den Besuch der deutschen Mannschaft bei der EM geht, ist noch offen. Auch wenn eine Absprache zwischen Bundespräsident und Kanzlerin offiziell nicht bestätigt wird, dürfte Merkel mit Gaucks Entscheidung zufrieden sein: Zwischen beiden Verfassungsorganen gibt es bei derart wichtigen Entscheidungen immer einen intensiven Austausch.

Laut Regierungssprecher Steffen Seibert hat Merkel noch keine Pläne für eine Reise zur EM. Einstweilen setzt die Bundesregierung weiter darauf, dass die ukrainische Führung doch noch auf das Angebot eingeht, die am Rücken erkrankte Timoschenko in Deutschland behandeln zu lassen. Falls Kiew stur bleibt, gerät die Kanzlerin allerdings in die Zwickmühle zwischen Fußballbegeisterung und Diplomatie.

Die deutsche Mannschaft absolviert alle drei Gruppenspiele in der Ukraine. Das Top-Spiel gegen die Niederlande findet am 13. Juni im Metalist-Stadion von Charkow statt, nur wenige Kilometer von dem Frauengefängnis entfernt, in dem Timoschenko mit einem Hungerstreik gegen ihre Haftbedingungen kämpft.

Unvorstellbar erscheint, dass Merkel bei dem Spiel an der Seite des ukrainischen Staatschefs Viktor Janukowitsch auf der Tribüne Platz nimmt, während Timoschenko nur ein paar Kilometer entfernt hinter Gittern sitzt. Für eine Absage ist es allerdings noch viel zu früh.

Einen eleganten Weg aus der Zwickmühle zeigte Innenminister Hans-Peter Friedrich (CDU) auf. Er kündigte in der „Rheinischen Post“ einen Besuch des Spiels gegen die Niederlande an. Zur Bedingung machte der für Sport zuständige Minister aber, dass er die Gelegenheit zum Gespräch mit Timoschenko erhält.

Außenminister Guido Westerwelle hielt sich am Donnerstag in der Debatte bewusst zurück. Er wolle die Gespräche mit der Ukraine nicht durch Ankündigungen erschweren, sagte er während seiner Asien-Reise. Dem FDP-Politiker würde ein Verzicht auf einen Besuch bei der EM ohnehin nicht schwer fallen - er ist kein Fußballfan.

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