Zabel zieht den Hut vor Degenkolb

San Remo (dpa) - John Degenkolb saß erschöpft auf einer Getränke-Kühlbox neben dem Teambus. Mehr als sieben Stunden Wettkampf hatten sich in sein Gesicht geschrieben. Erik Zabel stand nicht weit entfernt und zog vor dem bemerkenswerten Debütanten symbolisch den Hut.

„Beim ersten Mailand-San Remo auf Anhieb auf Platz fünf - und das mit 23 Jahren. Chapeau. Das kann einmal sein Rennen werden“, lobte der vierfache San-Remo-Sieger den Novizen aus Erfurt und erinnerte sich an alte Zeiten: „Ich habe hier auch mit 23 begonnen, kam aber glaube ich fünf Minuten nach dem Sieger so etwa als Hundertster in Ziel.“

Degenkolb, der bei der 103. Auflage des Klassikers hinter Überraschungssieger Simon Gerrans, dem geschlagenen Topfavoriten Fabian Cancellara, Vincenzo Nibali und Peter Sagan auf Rang fünf gespurtet war, könnte die Radsport-Welt also offenstehen. „Nach 298 Kilometern noch so einen Sprint hinzulegen, ist nicht schlecht“, meinte der gefeierte Youngster. „Ich bin sehr zufrieden. Das gibt unwahrscheinlich Selbstvertrauen. Man sagt, wer in San Remo unter die besten Fünf fährt, kann auch gewinnen.“ Degenkolb umriss damit seine Zukunftspläne und lobte die weitsichtige Vorbereitung seines niederländischen 1T4I-Teams, das im Küchengeräte-Hersteller Bosch womöglich bald einen deutschen Co-Sponsor erhalten könnte.

„Nach Paris-Nizza sind wir sofort nach San Remo gefahren, und die Endphase der Strecke zigmal abgefahren. Schon vor dem Rennen kannte ich den Poggio in- und auswendig“, erzählte der Newcomer, der im Vorjahr gleich mehrfach aufhorchen ließ. Bei Paris-Roubaix kämpfte er sich sensationell in die Top 20, am 1. Mai siegte er in Frankfurt. Bei der Weltmeisterschaft in Kopenhagen raubte ihm nur ein technischer Defekt im Finale die Chancen auf einen vorderen Rang. Die „Gazzetta dello Sport“ nannte ihn nach seinem dicken Ausrufezeichen in San Remo bereits einen „Protagonisten der Zukunft“.

Am Poggio, dem kleinen Hügel sieben Kilometer vor dem Ziel, fiel auch diesmal die Vorentscheidung: Die drei Schnellsten konnten sich etwa fünf Sekunden vom Fahrerfeld lösen und ließen sich den Vorsprung bis auf die Zielgerade Lungomare wenige Meter vom Mittelmeer entfernt nicht mehr nehmen. Degenkolb fehlten auf dem Poggio nur wenige Meter, um mit dem Terzett mitzukommen: „Ich habe den Lenker fast zerquetscht - aber es ging nicht. Mein schmerzverzerrtes Gesicht war im Fernsehen sicher gut zu sehen.“

Während Degenkolb und der neue Katusha-Teamchef Zabel das Rennen an diesem stürmischen Nachmittag Revue passieren ließen, bedauerte Hans-Michael Holczer seinen Topfahrer Oscar Freire und schwärmte vom deutschen Nachwuchs. Der 36-jährige Spanier hatte sein Vorhaben, in San Remo mit seinem vierten Streich mit Zabel gleichzuziehen, als Siebter deutlich verfehlt.

Die Zukunft aus deutscher Sicht gehört neben dem schon arrivierten Tony Martin vor allem Degenkolb und seinem Teamkollegen Marcel Kittel. Vielleicht ist die Zeit bald reif, dass es in einer deutschen Spitzenmannschaft im WorldTour-Bereich wieder Arbeitsplätze gibt. Vor vier Jahren hatte sich Holczer, seit 2012 Chef beim russischen Katusha-Projekt, mit dem letzten deutschen Topteam Gerolsteiner nach den Dopingfällen von Stefan Schumacher und Co. zurückgezogen.

Degenkolb auf jeden Fall betreibt bereits fleißig Werbung für den Radsport in Deutschland. Die nächsten Gelegenheiten folgen schon in den anstehenden Wochen. „Bei der Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix wird man wieder von ihm hören“, ist sich Zabel sicher.

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