Olympias tragische Helden

Jürgen Hingsen startete in Seoul dreimal zu früh, Thomas Fahrner verzockte sich im Vorlauf von Los Angeles.

Düsseldorf. Es ist neun Uhr morgens, das Olympiastadion von Seoul ist an diesem 28. September 1988 noch fast leer. So früh will keiner aufstehen. Der Wettkampftag wird lange dauern, warum also jetzt schon ins Stadion kommen? Jürgen Hingsen, der Zwei-Meter-Mann aus Krefeld, ist schon da. Er muss, denn der Zehnkampf beginnt, und Hingsen ist ein Anwärter auf die Goldmedaille.

Er hat schon drei Weltrekorde aufgestellt, in großen Wettkämpfen aber immer gegen seinen ewigen Rivalen, den Briten Daley Thompson, verloren. Hingsen steht unter Druck. Endlich will er seinen Konkurrenten abhängen, doch er ist gehandicapt: Sein rechtes Knie ist verletzt, die Patellasehne schmerzt. Ein guter Absprung beim Hochsprung ist praktisch unmöglich. Die anderen neun Disziplinen - die müssen klappen.

Der 100-Meter-Lauf eröffnet den Zehnkampf. Hingsen will unter elf Sekunden laufen. Das wäre ein guter Start. Doch er verkrampft, läuft los, bevor die Startpistole ertönt ist. Ein Fehlstart, kein Beinbruch.

Aber dem 30-Jährigen versagen auch bei den beiden nächsten Starts die Nerven. Drei Fehlstarts, das heißt Disqualifikation. Die Spiele sind für ihn zu Ende, bevor sie wirklich begonnen haben. Und Hingsen, der vorher halb respektvoll, halb abschätzig "König ohne Thron" genannt wird, ist der Depp der Nation. "Ich habe danach keinen Zehnkampf mehr gemacht, aber zehn Jahre Albträume gehabt. Auch heute noch manchmal. Da muss ich immer wieder zum 100-Meter-Lauf antreten", hat Hingsen später einmal gesagt.

Später heißt es, er sei bewusst dreimal zu früh gestartet, um einer Dopingkontrolle zu entgehen. Tags zuvor war Ben Johnson überführt worden. "Ich hätte doch zehn Übungen Zeit gehabt, mich heraustragen zu lassen. Dafür startet man doch nicht eine Tausendstelsekunde zu früh. So etwas kann man gar nicht absichtlich machen", sagt Hingsen.

Besonders tragisch: Auch Thompson ist verletzt, landet nicht in den Medaillenrängen. Sieger wird Christian Schenk (DDR), mit einer Leistung, die Hingsen in Normalform gut hätte übertreffen können.

Mitfavorit Thomas Fahrner nützt 1984 in Los Angeles selbst ein olympischer Rekord nichts. Im Vorlauf lässt es der Freund von "Albatros" Michael Groß ruhig angehen, weil er für das 400-Meter-Freistil-Finale eine Außenbahn anpeilt. Zu ruhig. Denn er verpasst als Neunter das Finale. Im B-Lauf schwimmt er mit Wut im Bauch olympischen Rekord und ist schneller als Olympiasieger George Di Carlo. Doch das bringt ihm nichts.

Der 24.Juli 1908 ist ein brennend heißer Tag in London. Marathonläufer Dorando Pietri, ein Zuckerbäcker aus der Nähe von Modena, ist der Erste, der auf die letzte Runde ins Stadion einbiegt. Bis dahin hat er der Hitze getrotzt. Jetzt verlassen ihn die Kräfte.

Er taumelt, läuft in die falsche Richtung, wird zurückgeleitet, stürzt. Während des Rennens hat er nichts zu sich genommen. Das rächt sich. Er ist völlig ausgezehrt, seine Augen sind glasig, er ist zu schwach, sich auf den Beinen zu halten. Doch das Publikum will den tapferen Italiener in der viel zu weiten Hose als Olympiasieger sehen.

Da läuft John Hayes ins Stadion. Die Zuschauer schreien auf. Pietri soll gewinnen, nicht dieser Amerikaner. So erhält er die Hilfe, die ihn ins Ziel bringt, aber den Sieg kostet: Zwei Betreuer helfen ihm noch mal auf die Beine und geleiten Pietri über die Linie. Für die letzte Stadionrunde hat er fast zehn Minuten gebraucht.

Hayes kommt 34 Sekunden nach ihm ins Ziel - und wird zum Sieger erklärt, weil Pietri sich unerlaubter Unterstützung bedient hat. Dennoch: Sein Name geht um die Welt, er wird Profi, verdient viel Geld. Davon kauft er sich erst eine Bäckerei, dann ein Hotel. Als er Pleite geht, reicht es immerhin noch für eine Autowerkstatt in San Remo. 1942 stirbt er.

Noch heißer als in London ist es vier Jahre später beim Marathon in Stockholm. Mehr als die Hälfte der Läufer ist zur Rennhälfte ausgestiegen. Der Portugiese Francisco Lazaro stirbt sogar. Er hat seinen ganzen Körper zum Schutz vor der Sonne mit Wachs eingerieben, so dass er nicht mehr schwitzen kann.

Shizo Kanaguri aus Japan gibt nach 30 Kilometern auf. Er bittet einige Passanten um eine Erfrischung, die geben ihm nicht nur zu trinken, sondern nehmen ihn auch gleich mit zu sich nach Hause. Dort will sich Kanaguri kurz ausruhen, schläft aber ein und wacht erst am nächsten Morgen auf.

Unterdessen hat sein Team ihn bereits als vermisst gemeldet. Kanaguri kehrt in sein Quartier zurück, schämt sich aber furchtbar dafür, dass er das Rennen nicht beendet und die Siegerehrung verpennt hat. Er trainiert verbissen weiter. In Antwerpen 1920 erreicht er das Ziel, wird 16.

Dass er den Marathon von 1912 nicht beendet hat, wurmt ihn: Shizo Kanaguri ist schon 76 und Universitätsprofessor, als er nach Stockholm zurückkehrt. Am 20. März 1967 setzt er seinen Lauf an der Stelle fort, an der er ihn 1912 unterbrochen hatte. Und erreicht das Ziel - nach 54 Jahren, acht Monaten, sechs Tagen, 32 Minuten und 20,3 Sekunden. Der langsamste Marathonläufer aller Zeiten stirbt 1984.

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