Im Traumlabor von Red Bull in Milton Keynes

Milton Keynes (dpa) - Das Traumlabor von Red Bull liegt in einem Industriegebiet vor den Toren Londons. Unweit der Rennfabrik des Formel-1-Erfolgsteams kann man Golf spielen, neun Löcher für fünf Pfund.

Im Traumlabor von Red Bull in Milton Keynes
Foto: dpa

Glamour hat einen weitaus höheren Preis. In Milton Keynes klingt eben so manches eher nach Discount als nach Luxus. „Da sollte man sich ja nicht verlaufen, weil alles gleich aussieht“, warnt der Fahrer auf dem Weg in diese sogenannte New Town, die in den 1960er Jahren auf dem Reißbrett entworfen wurde. „Da findet man so schnell nicht wieder raus, vor allem wegen dieser ewigen Kreisverkehre.“ Hier also reiften die Titelträume von Red Bull.

Vier Jahre in Serie hat der von Getränkemilliardär Dietrich Mateschitz alimentierte Rennstall sowohl den Fahrer- als auch den Konstrukteurstitel in der Formel 1 gewonnen. Vettel katapultierte sich scheinbar in eine Endlosschleife des Erfolgs. Von Formel Langeweile wurde geschrieben; Red Bull mache dieses Premiumprodukt durch seine Überlegenheit kaputt.

Knapp drei Wochen vor dem Saisonstart in Australien scheinen die Sorgen aus der Formel-1-Chefetage um Einschaltquoten und Einnahmen hinfällig. Bei den Tests in Jerez und Bahrain wurde deutlich: Red Bull hat riesigen Nachholbedarf. Und es bleiben nur noch vier Tage, um Kilometer zu sammeln: Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag.

Die Technikreform hat es in sich. Die Turbomotoren sind zurück, nur noch 100 Kilogramm Sprit erlaubt. Gewicht und Aerodynamik der Wagen haben sich grundlegend verändert. In seiner Erfolgsschmiede sucht Vettels Rennstall nach Antworten. Die Zeit drängt. „Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Red Bull zurückkommen und in dieser Saison noch ein richtig starker Gegner wird“, sagte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff jüngst in einem dpa-Interview. Natürlich liefern die Übungsfahrten extrem wichtige Daten. Erst der Auftakt in Melbourne wird aber Aufschluss über die Kräfteverhältnisse liefern.

Es ist kurz nach neun Uhr morgens, Adrian Newey betritt das Foyer der Rennschmiede. Der Brite mit dem sanften Blick und der hohen Stirn ist vollbepackt. Papierrollen hat er sich unter die Arme geklemmt, eine rote Tasche, die wie ein aufgeblähter Turnbeutel aussieht, trägt er in der einen Hand, einen an den Ecken verschlissenen braunen Aktenkoffer in der anderen.

Neweys Gesicht würde man sich an der Supermarktkasse nicht einprägen, zu unauffällig, zu nichtssagend. Auf dem Firmengelände hingegen spricht man fast schon ehrfürchtig von dem 55-Jährigen. „God“, nennt ihn einer. Newey ist Designer, vielleicht sogar der beste, den die Formel 1 je erlebt hat. Kaum einer versteht sich so auf die Kunst der Aerodynamik wie er. Die Luft ist sein Metier.

Einen Formel-1-Wagen muss man sich wie ein Puzzle vorstellen, das sich aus bis zu 100 000 Einzelteilen zusammenfügt. Und jedes für sich kann Probleme versuchen. Red Bull fertigt fast 90 Prozent der Komponenten selbst. Vier Autoklaven, gasdicht verschließbare Druckbehälter, die wie riesige Waschtrommeln aussehen, stehen dafür in der Fabrik. Elemente für die Rennautos aus Kohlefaser werden darin ausgehärtet. Manch Metallteil wird erst am Morgen entworfen, mittags produziert und abends an die Strecke geliefert.

„Zu Beginn jeder Saison gibt es ein Element des Entdeckens, es ist eine Reise des Lernens“, erzählt Chefingenieur Alan Peasland. Das Ziel ist jedoch stets dasselbe. „Wir arbeiten hier, um Rennen zu gewinnen“, betont er. Ohne Performance und Verlässlichkeit gehe nichts. Darum kümmern sich 600 Mitarbeiter bei Red Bull.

Wenn man einen Überblick darüber gewinnen möchte, zu was das Team mit seinem Star Vettel imstande ist, muss man den Kopf in den Nacken legen. Im Eingangsbereich der Rennfabrik steht eine Vitrine, die mehrere Meter bis hoch unter die Decke ragt. Die Siegerpokale sind darin ausgestellt. Es sind viele, richtig viele. „Natürlich dürfen Sie davon Fotos machen“, sagt eine Angestellte zu einem Besucher. Man zeigt gern, was man hat. Zumindest hier. In den Fertigungshallen und Büroräumen sind Kameras verboten. Die Formel 1 ist ein Milliardengeschäft, Misstrauen eine ihrer Währungen.

Neweys Büro liegt im ersten Stock eines der drei Haupthäuser, gleich neben dem von Teamchef Christian Horner, der seit Gründung des Rennstalls 2005 dabei ist. Newey stieß ein Jahr später dazu. „Wenn ich bei ihm in England in der Fabrik vorbeischaue und all die Schablonen, Lineale und Zirkel auf dem Tisch liegen sehe, dann ist das schon was Besonderes“, erzählte Vettel einmal, der sich mehrere Wochen pro Jahr in Milton Keynes aufhält.

Newey wirkt bisweilen „Old School“. Er zeichnet noch mit Papier und Bleistift. Raum für Ideen hat er reichlich. Sein Reißbrett hat die Ausmaße eines Ehebetts. Auf dem Schreibtisch steht eine silberne Uhr in Form eines Flugzeugs; Newey ist studierter Luftfahrtingenieur.

Er scheint ganz in die Arbeit versunken, wie er in seinem lichtdurchfluteten Büro die Papierrollen auseinanderfaltet, begutachtet, akkurat wieder zusammenlegt und auf den Tisch stellt. „Ich genieße Regeländerungen“, sagt Newey, wenn die Formel 1 mal wieder spannender gemacht werden soll. Zwischen ihm und der besten Lösung, wie es der Topingenieur ausdrückt, steht nur ein weißes Blatt Papier.

Innerhalb von nur fünf Monaten, von der Vorstellung bis zur Streckenreife, entwickelt ein „Big Player“ wie Red Bull Racing einen Wagen. Der Weg bis dahin ist weit, holprig. Und teuer. 1000 neue Designideen machen jede Woche die Runde, erzählt Peasland. Bis ein Frontflügel den hohen Ansprüchen entspricht, werden 800 Entwürfe gemacht und wieder verworfen. Vom ersten bis zum letzten Rennen der vergangenen Saison grübelten sie bei Red Bull alleine über 30 000 verschiedenen Designs. 2014 werden es erheblich mehr. Kein Wunder.

Die Formel 1 ist längst keine Millimeterarbeit mehr. Es geht um Nanometer, Nanosekunden. Stillstand bedeutet Erfolglosigkeit, Fortschritt ist ohne die richtige Strategie nutzlos. Dafür haben die Teams sogenannte „Operations Rooms“, der Kürze wegen nur „Ops Rooms“ genannt. Rund 20 Ingenieure sitzen in diesem Lagezentrum, sammeln Telemetriedaten, bewerten sie; entwickeln daraus Marschrouten, wann ein Stopp besonders günstig erscheint und einen Zeitvorteil bringt. Oder wie man eine Aufholjagd am besten organisiert. Zum Beispiel im dramatischen WM-Finale 2012 in Brasilien, als Vettel trotz demolierten Wagens zu seinem dritten Titel raste. Ein Geniestreich.

Farben, Formen, Figuren flimmern über die Bildschirme in dem Großraumbüro der Rennfabrik. Die Designer sitzen in ihren Parzellen, statt mit einer Hochgeschwindigkeitsbranche könnte man es auch mit einer Versicherung zu tun haben. Entwickelt und entworfen wird in Milton Keynes auf etwa 28 000 Quadratmetern rund um die Uhr. Mit einem Auge haben die Designer auch das Geschehen im Grand-Prix-Zirkus stets im Blick. Eine Wanduhr in dem Büro zeigt die englische Zeit an, die andere, welche Stunde in Bahrain, Kanada oder aber Australien geschlagen hat: Am 16. März erlöschen in Melbourne die Roten Ampeln wieder.

Dann beginnt für Red Bull die Mission „Vet V“, die Jagd nach dem fünften WM-Titel nacheinander. Die Fahrer geben mitnichten nur Gas, lenken und müssen hohe Risiken bei Tempo 300 eingehen. Sie sind viel mehr. Sie bringen zwei Welten in Einklang. Ein Vettel, ein Fernando Alonso, ein Nico Rosberg oder ein Lewis Hamilton sind die einzigen, die die virtuelle Welt auf dem Bildschirm mit der Realität auf dem Asphalt verbinden.

Im Vorfeld spielt immer das „Was wäre wenn?“, das „Als ob“ eine große Rolle. Testen, prüfen, proben. Dafür hat auch Red Bull einen Windkanal. Er steht in Bedford, wenige Kilometer von Milton Keynes entfernt. Früher gehörte diese riesige Röhre dem Verteidigungsministerium, heute den Ingenieuren. Eine Turbine bläst Luft auf den Rennwagen, man will sehen, wie sich die Aerodynamik verhält. Genauso wie beim RB10 auf der Strecke.

Eins-zu-Eins-Modelle sind allerdings vom Automobilweltverband FIA verboten. Es gibt schließlich auch Teams, die nicht so viel Geld haben. Daher muss sich auch Red Bull mit Nachbildungen begnügen, 60 Prozent des Originalmodells sind erlaubt. Der „Model Shop“ nennt sich dieses Areal, wo Fantasie zu Material wird, wo aus Ideen Einzelteile geboren werden. Es surrt und dröhnt und quietscht. Die Modelle werden mittels einer Hightech-Software in 3D erstellt und dann von Spezialmaschinen aus orangenen Harzquadern freigelegt. Kosten für einen dieser Blöcke: etwa 72 000 Euro.

„Invisible Touch“ von Genesis schallt aus den Lautsprechern. Sichtbar in der Fertigungshalle mit den sogenannten Race Bays ist vor allem eines: die Sauberkeit. Irgendwo sieht man immer eine Reinigungskraft wischen oder fegen. Schmutz und Dreck können für die hochsensiblen Rennwagen verheerend sein. Klinisch rein wirkt daher dieser weiß gestrichene Bereich der Fabrik, wo die Autos endmontiert und auf die Reise geschickt werden. In diesem Labor, wo die Boxen den ganzen Tag Musik ausspucken, werden auch die Reifenwechsel geübt.

Sechs „Bays“, Buchten oder Nischen, für Vettels und Daniel Ricciardos Dienstwagen gibt es in dieser Abnahmestation. Wenn deren Autos nicht gerade hier gewartet werden, wie nun während der Tests im Wüstenstaat Bahrain, dann wird auch an den „Showcars“ geschraubt. Red Bull muss sich präsentieren. Und das Traumlabor muss liefern.

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