Fußball Interview: Dieter Müllers außergewöhnliches Leben

Nach der Karriere lag der ehemalige Kölner Stürmer im Koma. Sein Sohn starb. In seiner Biografie blickt er zurück – ohne Zorn.

 Vorn macht Dieter Müller noch gut Miene zum harten Training von Trainer „Tschik“ Cajkovski (hinten), vom 1. FC Köln im Juli 1975.

Vorn macht Dieter Müller noch gut Miene zum harten Training von Trainer „Tschik“ Cajkovski (hinten), vom 1. FC Köln im Juli 1975.

Foto: picture alliance/dpa/DB

Etwas Küchenpsychologie zum Anfang: Ist Ihr Buch auch ein Stück weit Aufarbeitung all der Schicksalsschläge, die Sie erlebt haben. Ihr Sohn ist mit 16 Jahren an Krebs gestorben, Ihre Mutter gab Sie bereits als Baby zu Ihren Großeltern ab, Sie haben Ihren leiblichen Vater erst spät kennengelernt …

Dieter Müller: Das war schon Vergangenheitsbewältigung. Es hat mir gutgetan, hat mich aber auch gefordert. Wenn ich beispielsweise über den Tod meines Sohns spreche, geht es mir immer noch nahe. Das zieht mich auch runter. Das gehört ja auch dazu. Ich wollte den Menschen aber auch mitteilen, wie ich das geschafft habe, nicht daran zu zerbrechen.

Es ist Ihnen scheinbar gelungen. Sie leben ein bürgerliches Leben mit Ihrer zweiten Ehefrau in Hanau. Wie gelingt es mit Ihrer Lebensgeschichte, nicht am Leben zu verzweifeln?

Müller: Ich habe eine unglaublich tolle Partnerin, meine jetzige Frau hat mir viel geholfen. Ich habe mich viel mit dem Thema Tod beschäftigt, habe schon immer viel gelesen, über Religion beispielsweise „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“. Das sind kleine Mosaiksteine, die helfen, einen Sinn zu sehen, wo es keinen Sinn zu geben scheint.

Haben Sie einen Sinn gefunden?

Müller: Nur bedingt. Wenn sich das Leben von einem Tag auf den anderen dermaßen verändert, wenn der Mensch, den du am meisten liebst, schwer krank ist und auch klar ist, dass er stirbt, gibt es anfangs keine Normalität. Ich bin verzweifelt, habe es aber auch durch meinen Glauben und die Hilfe meiner Frau und von Freunden geschafft. Am Ende habe ich mich aber allein herausgezogen.

Sind Sie religiös?

Müller: Ja, ich glaube an Gott. Auch nach meinem Herzinfarkt 2012 haben mir Gebete sehr geholfen. Ich glaube, dass fast alles im Leben vorbestimmt ist. Es gibt einen schönen Satz von Goethe: „Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.“ Da liegt sehr viel Wahrheit drin. Ich habe auch viel über den Buddhismus gelesen. Wir beschäftigen uns zu wenig mit der Unendlichkeit, es kann alles schnell vorbei sein. Wir Menschen haben die Demut verloren. Wir sind gehetzt, jeder mit sich selbst beschäftigt, es gibt zu wenig Nächstenliebe.

Ist die Corona-Krise da vielleicht eine Möglichkeit, wieder elementare Tugenden in den Vordergrund zu rücken?

Müller: Corona hin, Corona her, da wird sich nicht viel ändern. Die Menschen sind halt so. Ich kann nur jedem raten, sich den Dingen auch auf eine spirituelle Art zu nähern. Als mein Sohn ins Jenseits übergegangen ist, hatte ich beispielsweise das Gefühl, in diesem Raum wären Engel. Mir ist schon klar, dass das schwer zu glauben ist. Aber es ist eben meine Überzeugung.

Sie glauben, dass vieles vorbestimmt ist. Woher wussten Sie, dass Ihr Ende nicht gekommen ist, als Sie einen Herzinfarkt erlitten haben?

Müller: Das wusste ich in dem Augenblick nicht. Da habe ich ja nicht viel mitbekommen. Viel schlimmer war es mit meinem Sohn. Wir wussten, dass er stirbt, und die letzten drei Monate ist er Tag und Nacht gelegen, hat Morphium bekommen. Das war schlimm. Wenn ich bei ihm war, hatte ich eine unglaubliche Kraft. Wenn ich gefahren bin, bin ich zusammengebrochen.

Ihr Herz schlug für eine halbe Stunde nicht mehr nach Ihrem Herzinfarkt, Sie lagen fünf Tage im Koma und haben keine bleibenden Schäden davongetragen. Schicksal?

Müller: Wäre meine Frau zehn Sekunden später gekommen oder der Notarzt weniger kompetent gewesen, wäre es aus gewesen. Mein ehemaliger Mannschaftskamerad Gerd Strack hatte weniger Glück. Er hat es nicht geschafft und starb vor sechs Wochen an den Folgen eines Herzinfarkts. Man braucht keine Angst vor dem Tod zu haben, der ist schon vorbestimmt. Glauben heißt ja nichts wissen. Schicksal? Das muss jeder für sich selbst beantworten.

Sie haben danach Ihr Leben umgestellt: Etliche Kilos weniger auf der Waage, keine Zigaretten – gönnen Sie sich manchmal noch etwas?

Müller: Ich habe drei Jahre in Bordeaux gespielt, dort meine Liebe zum Wein entdeckt. Ab und zu gönne ich mir ein Glas. Aber mein Herz hat nur noch 35 Prozent, da muss ich schon aufpassen. Fahrradfahren und Golfspielen geht, Joggen leider nicht.

Und auch noch ein wenig kicken?

Müller: Nein, da habe ich Angst. Ich laufe einen Kilometer und merke, dass meine Pumpe nicht mitmacht. Ich lebe mit Einschränkungen. Aber ich bin zufrieden. Ich habe ein außergewöhnliches Leben gehabt. Wenn morgen der liebe Gott sagt „Das war’s“, dann kann ich nicht jammern. Bei meinem Sohn war das was anderes.

Kommt Ihnen bei derartigen Schicksalsschlägen Corona nicht wie eine Lappalie vor?

Müller: Ich schaue immer den „Weltspiegel“ in der ARD. Wenn ich da das Elend auf der Welt sehe, sage ich zu meiner Frau: „Wir dürfen nicht jammern. Wir müssen im Heute leben, da glücklich sein.“ Es fehlt an der Demut – im Fußball und auch sonst überall. Glücklich sein hat nur wenig mit Materiellem zu tun.

Sie hadern auch nicht, dass Sie nur zwölf Länderspiele gemacht haben? Immerhin waren Sie zwei Mal Torschützenkönig in der Bundesliga, trafen 1976/77 34 Mal – nur Gerd Müller hat Spielzeiten mit mehr Toren gehabt. Kein Deutscher traf häufiger im Uefa-Cup. Aber wenn die großen deutschen Stürmer genannt werden, fallen neben Gerd Müller Namen wie Jupp Heynckes, Karl-Heinz Rummenigge oder Horst Hrubesch.

Müller: Ich habe auch 14 Tore in einer Pokalsaison geschossen. Das hat nach mir keiner mehr geschafft. Ich war hinter Klaus Fischer der jüngste Spieler, der 30 Tore in der Bundesliga geschossen hat – dann kamen Jadon Sancho und Kai Havertz. Für die wird ein Marktwert von rund 100 Millionen Euro veranschlagt. Das steht doch in keiner Relation. Manchmal frage ich mich, was ich heute wohl wert wäre.

Und trotzdem nehmen Sie selten einen Top-Platz ein, wenn es um die Rangliste der besten deutschen Stürmer geht.

Müller: Das hat vielleicht mit der Nationalmannschaft zu tun. Dabei hatte ich ja ein Riesendebüt 1976 …

… als Sie im EM-Halbfinale gegen Jugoslawien beim Stand von 1:2 eingewechselt wurden, erst den Ausgleich schossen und in der Verlängerung noch beide Treffer zum 4:2-Sieg.

Müller: Dadurch, dass ich ins Ausland gegangen bin, stand ich nicht so im Blickfeld. Es war aber auch eine Riesenkonkurrenz mit Klaus Fischer und Horst Hrubesch, Rummenigge dann ja auch noch. Da hat sich Jupp Derwall eben für die entschieden. Das muss man dann eben akzeptieren.

Wie verfolgen Sie heute das Fußballgeschäft?

Müller: Vor Corona habe ich mir ab und zu die Spiele von Frankfurt und Köln im Stadion angeschaut. Jetzt sehe ich mir das ein oder andere Spiel im Fernsehen an. Das ist aber skurril. Zuschauer gehören einfach dazu. Mehr Spaß macht mir die Arbeit in meiner Fußballschule. Die Arbeit mit Kindern hat mir nach dem Tod meines Sohns unglaublich geholfen.

Wie tickt denn der Trainer Dieter Müller?

Müller: Ich versuche es mit einer Mischung aus Härte und Menschlichkeit. Viele sind etwas übersättigt. Da kann man den Kindern aber keine Vorwürfe machen. Es ist eine andere Generation.

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