Handball : Zehn verflixte Minuten - Die Analyse zum EM-Aus
Varazdin. Es waren vielleicht zehn Minuten. Gemessen an der Zeit, die Bundestrainer Christian Prokop in den vergangenen vier Wochen gemeinsam mit seinen Handball-Nationalspielern verbracht hat, ist das ein verschwindend geringer Wert.
Doch diese zehn Minuten veränderten viel. Vielleicht sogar alles. Das Publikum in der Arena von Neu-Ulm hat die Mannschaft gerade mit viel Applaus in Richtung Kroatien verabschiedet. Der letzte Test vor der Europameisterschaft verlief glänzend. 30:21 gegen Island. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Titelverteidigers ist beantwortet, die nach der Zusammenstellung des Kaders noch nicht. Prokop, seit zehn Monaten im Amt und beseelt davon, neue Wege zu gehen, ruft seine Jungs noch einmal zusammen. Ein letzte Besprechung, ehe sie zwei Tage zu Hause Kraft tanken sollen.
20 Spieler blicken ihren Coach gespannt an. Dann lässt er die Katze aus dem Sack: Finn Lemke, Marian Michalczik, Rune Dahmke und Fabian Wiede bleiben zu Hause. Ein Paukenschlag. Michalczik, Dahmke und Wiede sorgen kaum für Wirbel. Das Aus für Lemke besitzt aber eine Wucht, die Prokop unterschätzt hat. Es ist sein größter Fehler. Wohl auch der unnötigste. Vielleicht kostet er ihn sogar seinen Job. Denn diese Entscheidung setzt einen Prozess in Gang, der während des Turniers nicht mehr gestoppt werden kann. Eine Entfremdung zwischen Trainer und Mannschaft beginnt. Das Team kann in großen Teilen nicht nachvollziehen, warum ihnen der neue Chefcoach das Herz herausreißt. Lemke ist nicht bloß der Abwehrchef. Kein anderer in dieser Truppe besitzt ein höheres Standing als der 25-Jährige.
18 Tage später sitzt Prokop in Sveti Martin, rund 30 Kilometer nördlich von Varazdin gelegen, auf dem Podium. Sein Blick ist trüb. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Es ist der letzte deutsche Pressetermin bei dieser EM. Gleich geht es zurück nach Zagreb. An den Flughafen. Nicht ins Hotel. Heimreise statt Halbfinale. Deutschland ist krachend gescheitert. Durch glückliche Umstände besaß das Team am Mittwochabend die Möglichkeit, mit einem Sieg gegen Spanien, doch die Medaillenspiele zu erreichen. „Dass wir überhaupt die Chance hatten, aus eigener Kraft das Ding zu wuppen, war schon eigentlich ein Unding“, sagt Torwart Silvio Heinevetter. Er denkt wohl in diesem Moment an die Hauptrunden-Niederlage gegen Dänemark und die glücklichen Remis in der ersten Gruppenphase gegen Slowenien und Mazedonien. Normalerweise ist man bei diesen Vorleistungen schon vor dem letzten Match raus. Doch die deutsche Mannschaft bekommt diesen unverhofften Joker und verspielt ihn grandios. Nach dem 15:15-Zwischenstand (34.) kassiert der Titelverteidiger acht Tore in Folge — innerhalb von zehn verflixten Minuten.
„Wir haben uns verhalten wie eine Schülermannschaft“, schimpft Andreas Wolff hinterher. Der Torwart findet mal wieder die griffigsten Worte. „Wir sind nach einem katastrophalen Turnier ausgeschieden“, ergänzt er. Viele seine Mitspieler stellen sich, sagen aber nicht viel. Von einem entrückten Verhältnis zu ihrem Trainer wollen sie in diesem Moment aber alle nichts wissen. „So einen Scheiß will ich nicht hören“, echauffiert sich Patrick Groetzki.
Uwe Gensheimer entzieht sich den Fragen. Nach dem Spiel und auch am Tag danach. Er ist der Kapitän — und drückt sich. „Die Leistungsträger haben es nicht geschafft, die Mannschaft zu führen“, sagt Bob Hanning am Donnerstag vielsagend. Der Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes redet Klartext. „Es war nicht alles schlecht, aber es war nicht gut genug.“ Er nimmt auch die Spieler in die Pflicht. „Manche waren nicht in Form.“ Hanning will nun ausgiebig analysieren. „Ernst, ehrlich und hart zu uns selbst“, wie er sagt. In vier bis sechs Wochen soll der Prozess abgeschlossen sein.