WM 2018 Iran gegen Spanien: Historisch kurze Nacht in Teheran

In Kasan träumt die iranische Nationalmannschaft nach einem tapferen Auftritt vom ersten Achtelfinaleinzug der Geschichte, während sich in Teheran erstmals nach ewiger Zeit wieder ein Fußballstadion für Frauen öffnet.

Fußballfans in Teheran.

Fußballfans in Teheran.

Foto: Ebrahim Noroozi

Kasan. In einer Stadt wie Kasan den gewohnten Schlafrhythmus zu finden, ist während der Sonnenwende nahezu unmöglich. Offizieller Sonnenaufgang 2.58 Uhr. Die Dämmerung setzt eine Stunde früher ein, eine Stunde später schimmert die Sonne über die goldenen Kuppeln. Aber wer will schon schlafen, wenn so viel Aufregendes passiert? Einige Restaurants und Bar hoben auf der Baumann-Straße kurzerhand die Sperrstunde auf, nachdem viele der bis zu 20.000 Iraner und Exil-Iraner nach dem zweiten WM-Gruppenspiel gegen Spanien (0:1) einfach nicht ins Bett wollten. Stoff für nächtelange Debatten gab es reichlich.

Denn der tapfere Auftritt in Kasan wurde überwölbt von den bemerkenswerten Entwicklungen in Teheran, die viele Unterstützer parallel auf Twitter-Accounts wie #openstadium verfolgt hatten: Beinahe minutiös protokolliert, was parallel am Azadi-Stadion in der Hauptstadt der Heimat passiert war: die Aufhebung des Stadionverbots, das für Frauen des unter der Fuchtel des Klerus stehenden Volkes seit fast vier Jahrzehnen galt. Nun durften sie auf einmal wieder mit geschminkten Gesichtern und bunten Trikots ein Fußballspiel schauen. Wenn auch vorerst nur auf der Videowand.

Zunächst wollten Sicherheitskräfte das Stadion gesperrt lassen, es kam zu Sitzblockaden und Proteste, die letztlich ihre Wirkung nicht verfehlten. Denn die Scheinargumente, dass weibliche Fans angeblich vor dem ungebührlichen Verhalten der männlichen Anhänger geschützt werden müssen, sind längst entlarvt. Angefeuert über die sozialen Netzwerke und die Macht der verbreiteten Bilder, die freiheitsliebende Frauen auf russischen Straßen und Stadien zeigen, ging eine Lawine los, die letztlich auch die Staatsmacht überrollte.

Ein Abgeordneter des iranischen Parlaments deutete an, „dass die Zuschauer bewiesen haben, dass sie die Regeln respektieren.“ Man werde auch das nächste Spiel im Stadion übertragen. Und dann hoffentlich auch den immerhin 100.000 Zuschauer fassenden Tempel der Freiheit bei normalen Fußballspielen für beide Geschlechter zugänglich machen. Die Regierung deutete vorsichtig ein Einlenken an, und dann wäre die seit dem 5. Oktober 1981 bestehende Ausgrenzung aufgehoben. Insofern könnte die fünfte WM-Teilnahme des Iran einen Meilenstein markieren, der vielleicht der größte Erfolg wäre. Nach dem 1:0-Auftaktsieg gegen Marokko waren die geplanten Public-Viewing-Veranstaltungen noch abgesagt worden, was die Anhängerschaft von Team Melli in der Islamischen Republik nicht vom Feiern abhielt. Und an ihrer fröhlichen Tour durch Russland kann sie sowieso niemand hindern.

Dass die mit so viel äußerer Energie aufgeladene Mannschaft erstmals in ihrer Historie das Achtelfinale erreicht, ist zwar vermessen, aber die Ausgangslage für das dritte Gruppenspiel gegen Portugal am Montag gar nicht so schlecht — es braucht in Saransk einen Sieg. Trainer Carlos Queiroz, selbst Portugiese, nahm dafür Anleihen aus dem Tennissport: „Wir hatten einen Matchball gegen Spanien, jetzt haben wir noch einen zweiten gegen Portugal.“ Niemand hätte doch gedacht, sagte Queiroz, in einer Gruppe mit den europäischen Supermächten überhaupt noch eine Chance aufs Weiterkommen hätte. „Unsere Träume stehen uns offen.“

Und deswegen sollte sich auch niemand über das nicht gegebene Ausgleichstor von Saeid Ezatolahi ärgern, das Schiedsrichter Andrés Cunha zurecht wegen einer Abseitsstellung nicht anerkannte (62). Die Woge der Ekstase war in dem Moment wie ein Tsunami über die Ränge der Kasan-Arena geschwappt. Mit der gehobenen Hand des Referees aus Uruguay fuhr vielen ein Schock durch die Glieder. Der im iranischen Stab für Pressearbeit zuständige Mohsen Motamedkia regte sich dermaßen auf, dass er mit gesundheitlichen Problemen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Später kam Entwarnung.

Iranischen Reporterfragen nach Verschwörungstheorien ging Grandseigneur Queiroz nicht auf den Leim, sondern der 65-Jährige wertete die über den Videobeweis abgesicherte Entscheidung als „gut für die Glaubwürdigkeit des Fußballs“. Zum weltweiten Renner in den sozialen Netzwerke avancierte dann noch jene Szene, in der Milad Mohammadi bei einem Einwurf mit dem Ball in der Hand vor der Seitenline einen Überschlag vollführte, dann aber die Kugel doch ziemlich gewöhnlich zurückwarf. Was dieser eigenartige Versuch bezwecken wollte — auch darüber ließ sich in einer historischen Nacht noch lange diskutieren, in der Schlaf wirklich überflüssig erschien.

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