Kolumne von Marcel Reif „Ich wünsche mir mehr vom Geist der Klinsmann-Revolution“

Im Viertelfinale haben wir den zweiten Teil der Dokumentation gesehen, die schon im Achtelfinale begann. Titel: Die Zeit des Heldenfußballs ist vorbei. Du kannst bei einem Turnier auch heute noch zum Helden werden, aber du darfst keiner sein.

Kolumne von Marcel Reif: „Ich wünsche mir mehr vom Geist der Klinsmann-Revolution“
Foto: Foto: Paul Zinken/dpa

Denn der Held von heute ist für die Mannschaft da und er braucht eine Mannschaft, die ihn trägt, nicht umgekehrt. Pelé 1970 oder Maradona 1986, später und mit Abstrichen noch Zidane 1998 oder Ronaldo 2002 — das ist vorbei.

Die Helden von heute sind anders. Zum Beispiel Kevin de Bruyne, für mich jetzt, Anfang Juli 2018, der beste Fußballer der Welt. Einer, der kein Held sein will und der keine Ganzkörper-Tattoos und tägliche Frisurenwechsel braucht, um seine Persönlichkeit auszudrücken. Es ist die letzte Chance dieser goldenen Generation der Belgier, sie wollen ihre Ära vergolden.

Doch ob das am Dienstag gegen die Franzosen gelingt, denen man von Spiel zu Spiel ansieht, wie sie zur Turniermannschaft reifen? Manchmal spielen sie noch so wild, wie junge Hunde herumtollen, aber Monsieur Deschamps verpasst ihnen eine immer klarere Struktur.

Ein ähnliches Duell ist das andere Halbfinale. Die jungen, noch etwas unfertigen Engländer gegen die cleveren Kroaten. In England wird geerntet, was man sich systematisch aufgebaut hat. In Kroatien führen Nationalstolz und Heimatliebe abgezockte Profis aus zwölf Profiligen zu einem Team zusammen, das wie die Belgier angetrieben wird von der Aussicht auf die letzte Chance dieser großen Generation. Sie sind hungrig nach Erfolg, immer noch, vielleicht sogar mehr denn je.

Sehen Sie, jetzt habe ich Sie bei der deutschen Mannschaft, die seit eineinhalb Wochen zu Hause, aber noch in unseren Köpfen ist. Keine Minute mehr hatten sie verdient, noch im Turnier zu sein — und doch behaupte ich: Von der Klasse des Kaders her hätte es gegen jeden der vier Halbfinalisten reichen können, vielleicht sogar müssen. Wenn es nicht an so vielen Dingen gefehlt hätte, für die nicht nur der Bundestrainer, sondern auch der Manager verantwortlich ist. Schließlich ist Bierhoff ja nicht als Marketing- , sondern als Fußball-Stratege angestellt und gefordert.

Er müsste die Analyse des Trainerstabes einfordern und bewerten, um dann zu entscheiden, ob die notwendigen Veränderungen von den alten oder vielleicht doch mit ein paar neuen Leuten in Angriff genommen werden sollen. Und sich dabei auch bitte selbst hinterfragen in seiner Führungsrolle. Bierhoff hat den Fall Erdogan/Özil/Gündogan erst unterschätzt und dann falsch angepackt; das ist schon schlimm genug. Aber jetzt im Gewand einer vergifteten Selbstkritik so nachzutreten gegen Özil verstößt gegen die Werte, die Bierhoff gern als die „der Mannschaft“ propagiert. Das gilt auch für die urplötzliche Aufforderung des Präsidenten an Özil, sich nun alsbald zu äußern. Da steigt einem doch der Geruch von Populismus in die Nase. Wir sehen: Es gibt viel aufzuarbeiten.

Aber was ist passiert? Bevor jemand überhaupt in die Details geschaut hat, hat man sich schon gegenseitig das Vertrauen ausgesprochen. Erst der Präsident Grindel dem Bundestrainer Löw, dann der Manager Bierhoff dem Bundestrainer, und bald wird wohl der Dank der beiden in einer Grußadresse an den Präsidenten publik. Wenn das jemandem zuviel Kuschelkurs ist, dann kann ich das verstehen, weil die Reihenfolge einfach nicht stimmt. Erst die Analyse, dann die Konsequenzen — da wedelt der Schwanz mit dem Hund.

Ich hätte es gern andersrum gehabt, denn für ein „Weiter so!“ war der deutsche Auftritt einfach zu schlecht. Ich wünsche mir bei der Aufarbeitung ein bisschen von dem Geist, der die Klinsmann-Revolution 2004 angetrieben hat. Etliche waren und sind seit damals dabei, von Löw über Bierhoff und Köpke bis zu Siegenthaler, Hermann und Verstegen. Damals sind sie angetreten mit dem Ziel, nicht die Welt zu verändern, sondern gleich den DFB, was zweifellos schwieriger war. Wer ein bisschen im Fußball-Geschichtsbuch blättert, kann sehen, dass das 2004 eine Revolution war. Sie war möglich, weil die Angst des DFB vor dem Misserfolg größer war als die Verbandsphobie vor Veränderungen. Und weil es hinter dem charismatischen Anführer Klinsmann eine ganze Reihe mutiger, frecher Männer gab, die etwas verändern und dabei etwas riskieren wollten. Ich frage mich: Was ist davon geblieben? Wie viel davon lässt sich reaktivieren? Und: Wer ist der Anführer?

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