An der Taktiktafel : Von der „falschen Neun“ und dem Fall Kießling

Alles spricht inzwischen von der „falschen Neun“. Was ist so innovativ an dem Verzicht auf einen klassischen Mittelstürmer? Ist der Strafraumstürmer ein Auslaufmodell?

Frank Wormuth: Die „falsche Neun“ ist ein sehr unglücklicher Begriff, der bei der EM 2012 durch den spanischen Trainer Vicente del Bosque kreiert wurde. Um was geht es? Die Position 9 ist in vorderster Front angesiedelt. „Falsch“ in dem Fall bedeutet, dass dieser Spieler die Position 9 ständig verlässt und der Innenverteidiger keinen direkten Zugriff mehr auf ihn hat.

Er kommt also meistens aus der Tiefe des Raumes und dann noch frontal mit und ohne Ball auf den Verteidiger zu. Das ist schwer zu verteidigen. Im Grunde aber nichts Neues, weil Johan Cruyff aus den Niederlanden 1974 schon so gespielt hat — und für die älteren Menschen unter uns war es Nándor Hidegkuti 1954 mit den Ungarn. Bisheriger Fachbegriff war „hängende Spitze“. Kleine quirlige Messis oder Götzes sind dafür prädestiniert, weil sie sich sehr gut zwischen den Linien „verstecken“ können und dann plötzlich vorne auftauchen.

Aber der klassische Mittelstürmer, der sich ständig da vorne bewegt, seinen Körper einsetzt, den Ball festhält und für Mitspieler auflegt oder selbst per Kopf abschließen kann, den wird es weiterhin geben. Das hat uns ganz gut Klose im Spiel Deutschland gegen Armenien gezeigt.

Stefan Kießling ist einer der erfolgreichsten Bundesliga-Stürmer der letzten Jahre. Warum hat er nicht zumindest als Einwechsel-Alternative einen Platz bekommen?

Wormuth: Ob Sie es glauben oder nicht: Unser Bundestrainer hat mir in dem Fall nicht seine Gedanken mitgeteilt. Ich persönlich vermute mal, dass die Spielidee der Nationalmannschaft mit anderen Typen gespielt wird und da Stefan Kießling zudem in den letzten Monaten nicht beim Team dabei war, ist auch das eingespielt sein nicht gewährleistet. Die Kaderzusammenstellung ist ein ganz wichtiger Part einer Spielidee und dann spielen auch nicht immer die besten elf Spieler, sondern die elf Spieler, die zu der Spielidee am besten passen. Die Entscheidung trifft der Trainer, nicht wir.

Die Nominierung des Defensivspielers Mustafi anstelle des Offensivmannes Reus ist in den Medien kritisch kommentiert worden. Was haben wir nicht verstanden?

Wormuth: Das kann von der Gesamtbetrachtung des Kaders abhängen. Man könnte den Kader zum Beispiel auch so anschauen: Vorher hat dieser einen Überhang an offensiven Kräften gehabt. 9 Spieler für 4 Positionen. Konkret: Özil, Kroos, Müller, Draxler, Podolski, Schürrle, Götze, Klose und eben der leider verletzte Reus. In der Defensive standen 7 für 4 Positionen, wenn man mal Lahm ins Zentrale Mittelfeld stellen würde. Shkodran Mustafi und Kevin Volland kenne ich beide gut, da sie bei mir in der U 20 waren. Die Nominierung von Mustafi rückt den Kader wieder in die Balance zwischen den Polen Abwehr und Angriff.

Zudem ist „Musti“ ein richtig starker Defensiv-Zweikämpfer und eine Persönlichkeit. In Italien hat e*r auch Außenverteidiger gespielt, ist also auch variabel einsetzbar. Vielleicht muss die Nationalmannschaft auch mal eine Führung verteidigen. Dann wäre er ein Kandidat. Kevin sehe ich persönlich auf der 10er Position, weil er dort seine Beweglichkeit und sein „zwischen den Linien sich bewegen“ optimal ausspielen kann. Solche Spielertypen hat die Nationalmannschaft aber schon genügend. Er ist auf jeden Fall kein typischer Stoßstürmer, wie so oft in den Medien zu lesen war.

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