Interview Warum der Ultra-Konflikt eskaliert

Vor dem Bundesliga-Start sagt der Journalist Christoph Ruf, wo die Konfliktlinien zwischen DFB und Fußball-Ultras verlaufen.

 Rostocker Hooligans zünden Stadionsitze und einen Banner der Berliner an.

Rostocker Hooligans zünden Stadionsitze und einen Banner der Berliner an.

Foto: Axel Heimken

Herr Ruf, kaum ein Profi-Spiel kam zuletzt ohne „Scheiß DFB“- oder „Fußballmafia DFB“-Rufe aus. Grundsätzliche Kritik am DFB ist kein neues Phänomen, aber warum passiert das jetzt so konzentriert?

Christoph Ruf:
Sie ist weder neu noch gab es einen ganz konkreten Anlass. Das Neue ist der Umstand, dass Ultra-Gruppen aus verschiedenen Städten zusammengesessen oder sich zumindest abgesprochen haben, gemeinsam dagegen vorzugehen.

Gab es einen konkreten Auslöser?


Ruf: Es gab zum Ende der Saison nach dem Spiel von Dresden in Karlsruhe, bei dem die Dynamo-Ultras zum „Krieg gegen den DFB“ aufgerufen haben, und nach den Relegationsspielen wieder eine neue Sicherheitsdebatte. Im Sommer fand ich es dann nahezu grotesk, wie viele Freundschaftsspiele aus angeblichen Sicherheitsgründen abgesagt wurden, was komplett lächerlich war. Das alles hat den Frust der Fans potenziert.

Aus DFB-Sicht könnte man argumentieren, dass es bei den Relegationsspielen ja auch Vorkommnisse gab: Braunschweiger Fans wollten den Gästeblock gegen Wolfsburg angreifen, Fans von 1860 beim Spiel gegen Regensburg einen Abbruch erzwingen.

Ruf: Und da hätte der DFB auch recht. Bei den beiden Spielen ist ja wirklich etwas passiert. Aber das ist noch lange kein Grund, bei der übergroßen Mehrheit der Spiele, bei denen überhaupt nichts passiert ist, Ausschreitungen herbeizureden. Beispielsweise beim Relegationsspiel zwischen Carl Zeiss Jena und Viktoria Köln, wo angeblich 300 Gewalttäter marodierend durch die Straßen gezogen sein sollen. De facto war es kein einziger. Da waren einfach Leute unterwegs, die zur großen Freude des übrigen Jenaer Publikums den Aufstieg gefeiert haben.

Selbst Omas am Straßenrand haben denen applaudiert. Natürlich ist die Sicherheitsdebatte keine reine Fiktion, es passieren immer wieder Dinge. Deswegen soll der DFB auch ruhig Strafen aussprechen, aber eben auf einer rechtsstaatlichen Grundlage und nicht willkürlich. Bei 1860 gegen Regensburg wurden die Beteiligten erkannt, beim Rausgehen erkennungsdienstlich behandelt und bekommen jetzt ein Verfahren. Das muss auch so sein, aber dafür reicht die normale Rechtsstaatlichkeit aus, dafür braucht es keine weiteren Gesetze oder drakonische Kollektivstrafen.

Das dürfte nach den Vorkommnissen am Montagabend in Rostock, wo Hansa-Fans eine Berliner Fahne verbrannt haben, aber wieder mal gefordert werden.

Ruf: Das waren keine schönen Szenen und das sollte man auch klar so benennen. Aber nun wird das ganze Thema wieder in einem Maße aufgebauscht, dass ich es nicht mehr nachvollziehen kann. Verbandsvertreter sagen ja auch hinter vorgehaltener Hand, dass ihnen das Thema von der Politik aufgezwungen wird.

Liegt das am Wahlkampf?

Ruf: Natürlich, auch das bestätigen Fußballfunktionäre hinter vorgehaltener Hand. Es ist ja kein Zufall, dass die Innenminister Boris Pistorius aus Niedersachsen und Thomas Strobl aus Baden-Württemberg Anlässe, die zum Teil im Februar waren, auf die lange Bank geschoben haben, bis sie im Vorwahlkampf dann groß angelegte Sicherheitsgipfel veranstalten konnten. Bei denen kam natürlich überhaupt nichts bei raus, bis auf den Show-Effekt, dass der Minister sich damit profilieren konnte. Allerdings sagen selbst hohe Polizisten, dass bei jedem Rockfestival mehr passiert. Dasselbe gilt ja für das Oktoberfest oder den Karneval.

Auch DFB-Präsident Reinhard Grindel spielt dieser Tage den Kümmerer und hat persönlich in einem offenen Brief auf einen Blogeintrag eines Fans aus Meppen geantwortet, der für das Pokalspiel „Scheiß DFB“-Rufe angekündigt hatte. Bedeutet das, der DFB nimmt den Protest ernst oder ging es darum, die Deutungshoheit über die Debatte zurückzuerlangen?

Ruf: Beides, ich glaube schon, dass die beim DFB gerade zusammensitzen und sich aufrichtig erstaunt fragen, was los ist und wie sie die Kuh vom Eis bekommen. Die Rufe sind ja auch im Fernsehen immer zu hören und sind nichts, was du die ganze Saison über als Unterlegung für dein Produkt haben willst. Insofern würde ich ihm nicht absprechen, dass er das durchaus ernst meint. Und wenn er schreibt, Wechselgesänge interessierten ihn gar nicht, aber Argumente schon, ist das ja erst mal richtig.

Allerdings dürfte er die Argumente ja kennen, die Debatte über die Kommerzialisierung ist fast so alt wie der Fußball selbst.

Ruf: Richtig, die Organisation „Pro Fans“ hat ja auch gesagt, dass die Argumente seit Jahren auf dem Tisch sind, aber es gibt halt einen Interessenskonflikt. Ob man den wegdiskutieren kann, weiß ich nicht, aber man kann es ja versuchen. Insofern finde ich das Bemühen von Herrn Grindel positiv.

Wie weit sind die beiden Parteien auseinander?

Ruf:
Ich glaube, was wirkliche Gewalt angeht, gibt es gar keinen Interessenskonflikt. Bis auf wenige Ausnahmen halten auch viele Ultra-Gruppen nichts von Böllern oder Stangen, die aufs Feld geworfen werden. Den totalen Interessenskonflikt gibt es aber natürlich beim Thema Pyro, und da wird es auch keine Lösung geben, weil der DFB eine Null-Toleranz-Schiene fährt und keine Ultra-Szene von sich aus sagen wird: Dann lassen wir es halt.

Auch diese Diskussion ist nicht neu, gezündet wird seit Jahrzehnten, nur die Strafen werden immer drakonischer. Geisterspiele oder gesperrte Tribünen, früher die absolute Ausnahme, gab es in der vergangenen Saison etliche. Trotzdem wird weiter gezündet. Wird beim DFB irgendwann ein Umdenken stattfinden, dass reine Repression nichts bringt?

Ruf:
Am Wochenende lief im ZDF eine Dokumentation über das Thema, in der DFB-Vizepräsident Rainer Koch, den ich eigentlich für einen vernünftigen Mann halte, sagte: „Von einer Kurve, die komplett leer ist, kann keine Gewalt ausgehen.“ Das ist ja eine vollkommen absurde Aussage. Nach der Logik können wir ja auch ein Ausgehverbot für Frauen verhängen, dann gibt es keine Vergewaltigungen mehr. Völliger Humbug, es ist klar erkennbar, dass diese verbale Eskalation zu nichts führen wird.

Für den DFB ist das ein zweischneidiges Schwert: Einerseits lobt er sich und die Bundesliga für die billigen Tickets und die Stimmung, andererseits kritisiert er die Fans, die für die Stimmung sorgen. Auch die Abschaffung der Stehplätze ist immer wieder ein Thema. Wird es hier irgendwann englische Verhältnisse geben?

Ruf: Ich nehme den Funktionären ab, dass sie die Stehplätze nicht abschaffen wollen. Aus welchen Motiven auch immer, ob das jetzt Fußballromantik ist oder ob sie die Stimmung brauchen, um ihr Produkt zu verkaufen. Deswegen glaube ich nicht, dass sie englische Verhältnisse wollen. Was aber komplett fehlt, ist das Verständig, dass erstens gar nicht so viel passiert, wie immer angenommen wird, und dass zweitens auch in den Kurven mindestens 98 Prozent keine Lust auf so etwas haben. Die Fans auf den Stehplätzen sind also Teil der Lösung und nicht Teil des Problems. Man hätte in vielen Bereichen ja auch ganz schnell einen Konsens, Stichwort Böller, Stichwort Rassismus. Da ist man nicht weit auseinander. Aber es bringt halt nichts, wenn Funktionäre sich hinstellen und sagen, die und die sind eine Schande für die Fankultur.

Was sollte der DFB stattdessen tun?


Ruf: Ich hätte mich beispielsweise bei der Pyrodebatte taktisch ganz anders verhalten. Ich hätte den Fans gesagt: „Ok, wir probieren das mal mit dem kontrollierten Abbrennen.“ Wenn es geklappt hätte, hätte man das Problem in den allermeisten Fällen gelöst und hätte sich diesen wahnsinnigen Repressionsapparat, der ein Schweinegeld kostet, gespart. Und wenn es nicht geklappt hätte, weil viele Ultras gesagt hätten: „Hey, wir machen das doch nicht unter Beobachtung in abgesperrten Bereichen, für uns hat das auch mit Rebellentum zu tun“, dann hätte ich als Verband sagen können: „Sehr her, wir wollten ja, aber es klappt nicht.“ Dann hätte der DFB die übergroße Mehrheit der Fans auf seiner Seite gehabt.

Nun geht es den Fans ja nicht nur um Feuerwerk.

Ruf: Ja, die viel spannenderen Debatten sind die um die Kommerzialisierung und um Anstoßzeiten. In der haben die Fans absolut recht. Nicht nur die Ultras, auch ganz normale Stadiongänger merken, dass es nicht mehr um sie geht, sondern nur noch um den TV-Konsumenten. Der Spielplan wird zerstückelt, damit möglichst viele Spiele gezeigt werden können, die Spiele werden erst sehr spät terminiert, was es für Auswärtsfans fast unmöglich macht, günstige Fahrten oder Hotels zu buchen. Unter der Woche beginnen Spiele in der 2. Liga um 17.30 Uhr, damit sie vor der 1. Liga gezeigt werden können. Da müssen sich Fans teilweise für Heimspiele Urlaub nehmen. Es wird an einer Spirale gedreht, die dem Fußball im Endeffekt schaden wird.

Daneben gibt es immer neue Korruptionsvorwürfe gegen DFB, Uefa und Fifa, die Enthüllungen der „Football Leaks“, den absurden Neymar-Transfer für 222 Millionen Euro. Wer sich mit aktiven Fans unterhält, hört häufig den Vorwurf, die Gewalt- und Pyrodebatte koche gerade mit Hilfe des Boulevards wieder hoch, um von den wahren Problemen des Fußballs abzulenken und die berechtigte Kritik an Funktionären, Spielern und Beratern als Sache von Krawallmachern abzutun.

Ruf: Ich glaube nicht, dass das ein bewusstes Handeln ist. Dafür hat man zu oft den Eindruck, dass Verbände eher reagieren als agieren. Die meisten haben gar keine eigene Agenda zum Thema Fans. Aber natürlich fällt es auf. Jede Schlagzeile, die die „Bild“-Zeitung über angebliche drohende Gewaltexzesse bringt und dann mit einem Hip-Hop-Song begründet — was ja an Albernheit kaum noch zu steigern ist —, raubt natürlich Platz für andere Themen wie Korruption in der Fifa oder Neymar. Ich sehe aber keinen absichtlichen, gesteuerten Zusammenhang.

Vielen Ultra-Gruppen wird zudem der Vorwurf gemacht, nur noch um sich selbst zu kreisen. Ständig wird boykottiert und der Support eingestellt. Selbst bei extrem wichtigen Spielen für die Vereine. Sind all diese Geschichten ein Grund dafür?

Ruf: Der Fußball entfernt sich immer weiter von seinen Fans — und teilweise ist das auch umgekehrt. Ich kenne zwar auch Ultras, die früher oder immer noch selbst kicken und sich sehr für Fußball interessieren, aber der Support und fanpolitische Themen stehen für viele Gruppen mittlerweile über allem. Viele gucken gar nicht mehr richtig aufs Spielfeld. Wenn ihre Mannschaft aber verliert oder absteigt, sind sofort alle Spieler Söldner, außer dem einem heiligen Spieler xy, selbst wenn der heute der schlechteste Mann auf dem Platz war. Viele Spieler empfinden den ewigen Singsang sowieso als nervig, sie hassen auch diese Rituale, sich nach bestimmten Spielen zehn Minuten am Zaun beschimpfen zu lassen. Aber sie lassen es über sich ergehen, weil sie nicht arrogant oder abgehoben rüberkommen wollen.

Sind es diese Szenen, die einem suggerieren, die Gewalt werde immer schlimmer? Seriöse Studien belegen ja, dass es nie so sicher war wie heute, in ein Bundesliga-Stadion zu gehen, trotzdem wird ständig von einer „neuen Welle der Gewalt“ gesprochen.

Ruf: Es ist der gesamtgesellschaftliche Zeitgeist. Wenn sich ein Kind früher mal ein blutiges Knie geholt hat, wurde es kurz abgetupft, heute holen die Mamis sofort den Sanitäter. Die ganze Nation trägt mittlerweile Fahrradhelme. Es gibt einfach ein ganz anderes Empfinden von Sicherheit. Das Leben einfach als Risiko abhaken, ist heute selten. Das andere ist die mediale Aufmerksamkeit, heute wird über jedes noch so kleine Vorkommnis berichtet. Und dann hat man das interessante Phänomen, dass all die, die nicht ins Stadion gehen, glauben, dass es im Stadion ganz furchtbar unsicher ist, während die, die seit Jahrzehnten hingehen wissen, dass es früher viel schlimmer war.

Interview: Warum der Ultra-Konflikt eskaliert
Foto: Axel Heimken/dpa
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort