Essen Titz bei RW Essen: Spieler sind Protagonisten – nicht ich

Essen · Beim Hamburger SV traute man ihm die Rückkehr in die Bundesliga nicht mehr zu. Jetzt versucht Christian Titz, Rot-Weiss Essen in die 3. Liga zu führen. Zum Saisonstart ein Gespräch über Rezepte, Taktiken und Tradition in der 4. Liga.

  Christian Titz, der neue Trainer von RW Essen.

Christian Titz, der neue Trainer von RW Essen.

Foto: dpa/Axel Heimken

Von der Loge der Sparkasse Essen hat man einen wunderbaren Blick auf den gepflegten Rasen des Essener Stadion. An der rechten Wand hängen Erinnerungsstücke aus besseren Tagen von Rot-Weiss Essen. Christian Titz weiß um die große Tradition dieses Fußballvereins, der seit mehreren Jahren in der viertklassigen Regionalliga West feststeckt. Mit dem 48-jährigen Fußballlehrer soll die Tristesse nun ein Ende finden. Titz hat den Hamburger SV trainiert und ist innerhalb weniger Monate in die zweite Liga abgestiegen. Jetzt spricht er über seine Entscheidung für Essen.

Herr Titz, würden Sie sich als einen risikofreudigen Menschen bezeichnen?

Christian Titz: (überlegt kurz) Ich würde mich schon als jemanden bezeichnen, der sicherlich das Risiko nicht scheut. Das trifft auch auf den Fußball zu, der auf eine gewisse Art eine Risikosportart ist. Schließlich hängt der Ausgang einer Partie immer von vielen Faktoren ab. Auf der anderen Seite bin ich aber auch ein Mensch, der Dinge ein stückweit realistisch einschätzt und vorkalkuliert.

Vor mehr als einem Jahr sind Sie ins Risiko gegangen, als Sie den Hamburger SV in einer prekären Situation in der Fußball-Bundesliga übernommen haben. Nun nehmen Sie mit Rot-Weiss Essen eine nicht minder schwere Aufgabe an. Lieben Sie solche Herausforderungen?

Titz: Ich mag schon die Herausforderung, aber für mich kam es – gerade was das Projekt Rot-Weiss Essen angeht – vor allen Dingen darauf an, welche Voraussetzungen der Verein mir hier stellt und welche Möglichkeiten sich dadurch ergeben.

Bei beiden Klubs handelt es sich auch um große Traditionsvereine mit einem emotionalen Umfeld. Was fasziniert Sie daran?

Titz: Das sind Vereine, die auf eine ganz besondere Art und Weise gelebt werden. Sie werden von unheimlich vielen Menschen unterstützt, die seit Jahren eine sehr starke Verbundenheit zu diesem Klub haben. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass die Fans sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten zusammenstehen. Natürlich ist in schlechten Zeiten die Stimmung auch nicht immer die beste. Aber wie die Menschen insgesamt einen Traditionsverein begleiten und unterstützen, finde ich schon beeindruckend.

Auch auf dem Spielfeld scheuen Sie nicht das Risiko und fordern von ihrem Team eine aktive und offensive Spielweise ein. Das erfordert auch viel Eigeninitiative. Mussten Sie deswegen bei Ihren Spielern schon mal Überzeugungsarbeit leisten?

Titz: Ich glaube, bei allem, was man in eine Mannschaft neu einbringt, ist Überzeugungsarbeit gefragt. Doch ich habe auf meinen Stationen immer wieder festgestellt, dass die Neugier der Spieler auf das, was wir als Trainerteam einfordern, sehr groß war. Auch hier in Essen habe ich bislang nicht das Gefühl gehabt, dass ich Überzeugungsarbeit leisten muss – im Gegenteil. Ich habe vielmehr eine enorm leistungshungrige und lernwillige Mannschaft vorgefunden, die für neue Dinge offen ist.

Dabei ist Ihre Spielidee schon herausfordernd. Die Abwehrspieler stehen beispielsweise sehr hoch, auch der Torwart ist ins Aufbauspiel miteingebunden. Wie nehmen das die Spieler auf, die so bisher noch nicht gearbeitet haben?

Titz: Zunächst einmal ist der Spielaufbau über den Torwart nur eine von verschiedenen Optionen in unserem Spiel. Für die meisten Spieler war das natürlich am Anfang ungewohnt und sie mussten im ersten Schritt auch viele Informationen verarbeiten. Aber ich sehe das positiv, weil ich eine komplette Vorbereitung Zeit habe, mit der Mannschaft daran zu arbeiten. Ich kann individuell, in der Gruppe oder im gesamten Mannschaftsverbund arbeiten und sprechen. Dadurch habe ich die Möglichkeit, die Dinge Schritt für Schritt einzuführen. Umgekehrt fragen die Spieler aber auch sehr viel nach und unterhalten sich sehr stark in der Gruppe. Es herrscht demnach eine hohe Bereitschaft, die Vorgaben umzusetzen.

Ist für Sie das Pressing die beste Verteidigung?

Titz: Man muss das differenzieren. Da gibt es verschiedene Optionen, aber ich finde es ein gutes Mittel. Ich kann auch Pressing spielen lassen und tief stehen und erst dann ins Pressing übergehen, wenn eine bestimmte Zone bespielt wird. Das geht ja auch. Ich glaube, die Art, wie wir pressen lassen wollen, hängt auch ein stückweit vom Gegner ab. Ein Beispiel: Wenn wir auf eine spielstarke Mannschaft treffen, kann es durchaus sein, dass wir uns für das Stilmittel entscheiden, dass wir den Gegner tiefer erwarten, um dann aus der Abwehrzone heraus, ins Pressing zu gelangen. Jeder Trainertyp hat ja seine eigenen Ideen. Ich bin jemand, der es mag, hochanzulaufen und selbst versucht, das Geschehen in die Hand zu nehmen. Das trifft auch auf den Ballbesitz zu, denn mit dem eigenen Ballbesitz minimieren wir die Zeit, in der der Gegner ein Tor schießen könnte. Und wenn ich nach Ballverlust schnell ins Gegenpressing komme, habe ich eine größere Chance, gegen eine unorganisierte Mannschaft eine schnellere Ballrückeroberung zu bekommen. Das sehe ich als zweiten Vorteil an.

Sie sagten mal, bis eine Mannschaft Ihre Spielidee verinnerlicht hat und dadurch gefestigt ist, kann es drei bis sechs Monate dauern – hat man diese Zeit überhaupt noch, wenn vor allem Ergebnisse gefragt sind?

Titz: Das geht ja im Prinzip allen Trainerkollegen so. Man benötigt einfach Zeit, um neue Prozesse in Gang zu setzen. Das ist die Situation und die spreche ich offen aus. Wenn ich neu zu einem Verein komme und mit allen – Mitarbeitern, Spielern und Fans – ein Ziel formuliere, dann können wir nicht sagen, dass mit einem Fingerschnipsen ab heute alles funktioniert. Das klappt auch in anderen Berufen nicht. Wenn wir in diesem Prozess drin sind, dann gehören auch Fehler dazu, das ist etwas völlig Normales. Das kann nicht alles innerhalb von zwei, drei Wochen reibungslos funktionieren, sondern manchmal benötigen Dinge auch einfach ihre Zeit. Mir ist aber bewusst, dass wir in dieser Anfangsphase auch ausreichend Punkte holen müssen. Das heißt, man muss immer wieder versuchen, hier und da zu modifizieren und den Spagat schaffen, möglichst erfolgreich zu sein.

     Auf der Westtribüne im Stadion Essen stehen die treusten Anhänger von Rot-Weiss Essen. Die Stimmung kann dort auch mal schnell umschlagen.

Auf der Westtribüne im Stadion Essen stehen die treusten Anhänger von Rot-Weiss Essen. Die Stimmung kann dort auch mal schnell umschlagen.

Foto: picture alliance / dpa/Caroline Seidel

Die Stimmung kann beim emotionalen Essener Publikum schnell umschlagen. Wie wollen Sie dem begegnen?

Titz: Indem ich mich dem nicht aussetze. Ich habe die Frage schon öfter gestellt bekommen, und ich kann nur das beantworten, wie es aktuell ist. Bis jetzt sind die Menschen hier sehr positiv, sie unterstützen den Verein und treiben ihn nach vorne. Auch als in der Vergangenheit Spiele verloren wurden, kamen die Fans im nächsten Spiel in Scharen wieder, das muss man sehen. Ich kann es nachvollziehen, wenn jemand, der die ganze Woche auf das Spiel seines Vereins hin fiebert und viel Zeit und Geld dafür investiert, nach einem verlorenen Spiel enttäuscht ist und seinem Unmut dann freien Lauf lässt. Aber ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam antreten: Fans, Mitarbeiter und Spieler. Immer im Wissen, dass auch Rückschläge kommen werden. Und dass wir negative Verhaltensmuster minimieren und uns stattdessen unterstützen und füreinander da sind, anstatt gegeneinander.

Helfen da auch die Erfahrungen, die Sie in Hamburg gemacht haben?

Titz: Ich glaube, dass wir, und da beziehe ich alle Mitarbeiter des HSV ein, in der Phase des Abstiegskampfes trotz aller Skepsis von außen auch gute Erfahrungen gemacht haben. Ich kann mich daran erinnern, dass die Fans hinter der Mannschaft standen, nachdem wir das Team übernommen haben. Wenn man auf Menschen zugeht, dann bekommt man auch etwas zurück. Es gibt immer mal wieder negative Stimmen, aber die gehören zum Fußball dazu. Doch ich habe bislang auf jeder meiner Trainerstationen etwas mitgenommen, das mir bei meinen neuen Aufgaben geholfen hat.

Können Sie das präzisieren?

Titz: Ich habe mich mit Sicherheit in den vergangenen Jahren in der Kommunikation und im Umgang mit Menschen weiterentwickelt. Ich weiß, dass es ganz wichtig ist, dass man sich mit den Leuten im Verein beschäftigt und sie mitnimmt. Der zweite Faktor betrifft meine Idee vom Fußball. Wenn ich an meine erste hauptamtliche Station bei Alemannia Aachen zurückdenke, wo meine Mannschaften durchaus auch defensiv aufgetreten sind, dann sind das zu heute schon große Unterschiede. Auch hier werden sich wieder Dinge verändern. Denn wir können nichts aus der Vergangenheit Eins-zu-eins auf die neue Mannschaft übertragen. Meine Aufgabe ist es auch nicht zu sagen: So spielen wir jetzt und dieses System wird übergestülpt. Sondern es geht darum, ein Gefühl dafür zu bekommen, Dinge zu modifizieren, wenn es die Mannschaft braucht. Entscheidend ist, dass die Protagonisten ja nicht der Trainerstab oder meine Person sind, sondern die Spieler auf dem Spielfeld.

Essen war zuletzt vor über zehn Jahren drittklassig, die Sehnsucht bei den Fans ist groß, viel wurde probiert, um wieder nach oben zu kommen, viele Trainer kamen und gingen. Nun herrscht wieder große Euphorie. Wie haben Sie das bisher hier alles erlebt?

Titz: Wenn man täglich so tief in den Arbeitsabläufen drinsteckt, wie ich momentan, dann kriegt man vieles von außen gar nicht so mit. Was ich allerdings mitbekomme, ist, wie die Leute auf einen zugehen. Das ist ja schon außergewöhnlich, ein ganz anderer Menschenschlag. Das wusste ich aber auch vorher.

Sie meinen die direkte Art der Menschen im Ruhrgebiet?

Titz: Genau. Eine kleine Anekdote dazu: Vor kurzem war ich zum Abendessen in der Stadt und am Nebentisch saßen vier junge Männer, die Karten gespielt haben. Später sind wir ins Gespräch gekommen, und da haben sie zu mir gesagt: „Sie wissen, wir wollen den Aufstieg in die 3. Liga, sonst wird es hier ungemütlich.“ (lacht) Aber ich kann diese Wünsche verstehen. Für mich ist Essen ein großer Verein, mit einer großen Tradition, der jahrelang höherklassig gespielt hat. Und wenn man dann sieht, dass der Klub über ein Jahrzehnt nicht mehr in den ersten drei Ligen vertreten war, dann kann man solche Reaktionen nachvollziehen. Da hat sich über die Jahre eine gewisse Enttäuschung entwickelt. Und durch Enttäuschung ist die Unzufriedenheit zwangsläufig schneller da. Aber wir wollen versuchen, den Menschen einen Weg aufzuzeigen, der nicht von Kurzfristigkeit geprägt, sondern der mittel-, eher langfristig angelegt ist.

Hatten Sie also keine Zweifel oder Bedenken, als das Angebot aus Essen kam?

Titz: Ich halte es als Trainer so, dass ich mich bei einem Verein mit der Aufgabe identifiziere. In Essen wurde ein Trainer gesucht, der eine spezielle, dominante Spielidee mitbringt. Das macht eine Zusammenkunft natürlich deutlich einfacher. Hinzukommt die Infrastruktur mit dem Stadion, den Trainingsmöglichkeiten oder den Räumlichkeiten für Präventivmaßnahmen. Das sind Möglichkeiten, die findet man in dieser Liga selten. Dazu noch die starke Fan-Basis und ein großer Sponsorenpool, die im Hintergrund den Verein unterstützen. Man hat zusammengefasst Voraussetzungen, mit denen man dauerhaft erfolgreich arbeiten kann und die sich noch weiterentwickeln können. Ich sehe daher die Chancen und das Potenzial, das dieser Klub hat. Mir ist aber auch bewusst, dass ein Aufstieg aus der Regionalliga sehr schwierig ist. Das ist für keinen Verein eine leichte Aufgabe, zumal fünf bis sechs Mannschaften auch das Ziel haben, um die Meisterschaft mitzuspielen.

Sie kennen die Spielklasse von Ihren Stationen in Homburg und beim HSV II ziemlich gut, worauf kommt es für Sie besonders an, um erfolgreich sein?

Titz: Das ist eigentlich ziemlich einfach zu beantworten. Die Vereine, die erfolgreich sein wollen, müssen eine klare Idee davon haben, welchen Weg sie gehen wollen. Das bedeutet nicht beim ersten Gegenwind zusammenzubrechen und sofort alles zu kritisch zu sehen. Bei einem ganz normalen Saisonverlauf wird es immer ein oder zwei Phasen geben, wo es von den Ergebnissen oder von der Leistung her nicht stimmen wird. Da heißt es zusammenstehen, Ruhe bewahren und die Mannschaft mitnehmen. Das gilt übrigens nicht nur exklusiv für die Regionalliga, sondern für alle anderen Spielklassen auch.

Ihre Mannschaft befindet sich im Neuaufbau, hat eine gute Mischung aus Jung und Erfahrung, welche Rolle kann Sie spielen?

Titz: Wir wünschen uns, dass wir oben mitspielen, das ist die Zielsetzung. Daraus machen wir auch keinen Hehl.

Beim HSV haben Sie einst als teambildende Maßnahme eine große Vorstellungsrunde initiiert, wo die Spieler über sich als Privatperson erzählen sollten. Haben Sie das auch in Essen gemacht?

Titz: Unter anderem. Wir haben aber auch mit der Mannschaft Paintball gespielt und zusammen mit den Familien einen Grillabend veranstaltet. Es ging darum, Vertrauen zu schaffen, das spielt für mich eine ganz große Rolle. Denn wenn wir als Team erfolgreich Fußballspielen wollen, brauchen wir Vertrauen. Und das bekomme ich nur, wenn ich mein Gegenüber kennenlerne. Da geht es nicht nur um Spieler und Trainer, sondern auch um die Spieler untereinander – und dazu gehören auch die Frauen und Kinder. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie eine ganz wichtige Rolle einnehmen, weil sie die Spieler auch in schwierigen Phasen zuhause unterstützen.

Schlägt demnach Teamgeist mitunter Qualität?

Titz: Ich glaube, man benötigt beides. Allerdings wird reine individuelle Qualität ohne Teamgeist dauerhaft zu Problemen führen.

Die erste Bewährungsprobe wartet schon am 1. Spieltag, wenn es zum Derby gegen den BVB II kommt. Die kleine Borussia gilt als eine der spielstärksten Mannschaften der Liga. Da müsste Ihnen doch als Offensivliebhaber doch das Herz aufgehen.

Titz: Ich freue mich auf das Spiel, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass U23-Teams immer Mannschaften sind, die nach vorne spielen wollen und die ein schnelles Spieltempo mitreinbringen. Das verspricht also eine Partie zu werden, in der zwei Mannschaften Offensivfußball spielen wollen und bereit sind, ein gewisses Risiko einzugehen. Zumal ich denke, dass Dortmund eine Mannschaft ist, die um die Meisterschaft mitspielen möchte. Ich finde es gut, wenn starke Mannschaften direkt zu Beginn kommen. Dann weiß man zum Saisonstart, wo man steht.

Wie werden Sie das Spiel angehen? Offenes Visier oder kontrolliertes Risiko?

Titz: (lacht) Ich wäre ja ein schlechter Trainer, wenn ich verrate, was ich vorhabe. Aber gehen Sie davon aus, dass wir den Gegner beobachten und uns intensiv auf ihn vorbereiten werden. Dabei schauen wir natürlich auf seinen Stärken und gucken, wie wir sie ausmerzen können. Im Gegenzug überlegen wir uns, wie wir unsere eigenen Stärken gewinnbringend einsetzen können.

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