Eins mit Özil und Co. Hessenpokal statt WM-Titel: Die Geschichte des S. Evljuskin

Kassel (dpa) - Sergej Evljuskin galt als Verheißung für die Zukunft. Trainer und Mitspieler nannten ihn sogar „Kaiser“.

Eins mit Özil und Co.: Hessenpokal statt WM-Titel: Die Geschichte des S. Evljuskin
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Der Sohn einer Aussiedlerfamilie aus Kirgisistan spielte mit Mesut Özil, Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes und bestritt 42 Junioren-Länderpartien für Deutschland, viele davon als Kapitän. Heute kickt der 28-Jährige für Hessen Kassel in der Regionalliga. Seine jetzt erschienene Biografie „Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister“ ist ein bemerkenswerter Gegenentwurf zu jenen Hochglanz-Büchern über Stars, die es im Profifußball geschafft haben.

„Vielleicht spreche ich für viele“, sagt Evljuskin. „Es gibt ja so viele, die ganz große Träume haben oder hatten vom Profifußball.“ Evljuskin wurde 2006 und 2007 als bester Nachwuchsspieler mit der Fritz-Walter-Medaille in Gold des Deutschen Fußball-Bundes ausgezeichnet. Außer ihm gelang dies zweimal später nur Mario Götze. Der Vergleich mit dem Siegtorschützen des WM-Finales von 2014 ist etwas, was Evljuskin nicht mehr hören kann.

„Sergej hat man mit den ganzen Ehrungen und Medaillen ganz schön viel in den Rucksack reingegeben, und der Rucksack ist mit den Jahren immer schwerer und schwerer geworden“, sagt Trainer Peter Hyballa in dem Buch. „Fußball ist ein knallharter Leistungssport. Die Besten spielen, fertig.“ Er habe sich auch manchmal „in diesem Gescheitert-Modus gesuhlt“. Aber als Mensch sei Evljuskin großartig.

Der Mittelfeldspieler kam über den Braunschweiger SC zum VfL Wolfsburg, die Bundesliga-Karriere schien programmiert. Einen Knacks erhält sein Aufstieg 2007: Er kommt von der U19-EM zurück, spielt im Verein unter Felix Magath keine Rolle, findet sich auch in der 2. Mannschaft kaum zurecht. Für ihn die „schlimmste Zeit in Wolfsburg“.

Also: ein Vereinswechsel. Mit Hyballa will er zu Rot-Weiß Essen, zähneknirschend in die 4. Liga. Der Verein bekommt aber keine Lizenz, der Transfer scheitert. Evljuskin geht zu Hansa Rostock in die 3. Liga, steigt mit dem Verein auf, der will ihn aber trotz gültigen Vertrags nicht mehr. Er wird zum SV Babelsberg ausgeliehen. Nach einem Jahr ist das einstige Top-Talent wieder auf Clubsuche. Noch mal 4. Liga, eine Saison beim Goslarer SC, dann zieht er weiter zu Hessen Kassel, wo er einen Vertrag bis 2018 hat.

Evljuskin wird von seinen Mitspielern längst „Siggi“ gerufen und nicht mehr „Kaiser“. „Sergej war ganz klar im Jugendbereich ein sehr dominanter Spieler. Er war unglaublich laufstark, war ballsicher, hat gearbeitet für das Team, war unglaublich engagiert. Aber es ist ganz einfach so, dass man im Jugendbereich gewisse Schwächen kompensieren kann“, erklärt sein früherer DFB-Trainer Frank Engel. Als dann mehr Männlichkeit, also mehr Körpereinsatz und mehr Tempo, ins Spiel gekommen sind, „da ist Sergej an eine Grenze gestoßen“.

Damit ist er nicht allein. Eine Studie der Technischen Universität Kaiserslautern von 2013, die in Evljuskins Biografie erwähnt ist, besagt: Von 160 Spielern, die beobachtet wurden, schafften es gerade mal zehn Prozent in den Profifußball, also in die 1., 2. oder 3. Liga. 84 Prozent gelang nicht mal der Sprung in die Regionalliga.

Laut Engel mischen in den Sichtungsturnieren des Verbandes jedes Jahr ungefähr 350 Spieler mit. „Davon werden am Ende 12 bis 15 den Sprung in die Bundesliga schaffen.“ Die Erst- und Zweitliga-Clubs haben in der Saison 2014/2015 erstmals mehr als eine Milliarde Euro in ihre Leistungszentren investiert. Dort werden jedes Jahr nicht nur viele Hundert Talente ausgebildet, sondern auch deren Träume gehegt. „Da gibt es auch einen Kampf unter den Vereinen, da wird schon in jungen Jahren nach knallharten Kriterien selektiert“, sagt Evljuskin.

Im Nachhinein ist er froh, dass er damals in gewohnter Umgebung in Braunschweig leben konnte. Und vor allem, dass er sein Abitur gemacht hat. Vierte Liga, das sei natürlich schon ein anderes Fußballerleben, „als das, was ich mir mit 15, 16, 17 erträumt und erhofft hatte. Ich wollte in den Profifußball, nach ganz oben.“

Evljuskin, ein Gescheiterter? Der Schauspieler Matthias Brandt hat in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gesagt: „Das Scheitern darzustellen ist das Größte. Im Zuge des Selbstoptimierungsquatsches muss immer eine Lösung im Raum stehen. Dabei ist es etwas Wunderbares, das Nichtmehrweiterwissen. Was tue ich, wenn ich in einer Sackgasse stecke?“

Evljuskin erklärt: „Ich denke, ich habe den richtigen Weg gewählt.“ Er hat sich zum Betriebswirt ausbilden lassen. Er kann von dem leben, was er als Fußballer verdient. Er studiert Sportmanagement und liebäugelt mit einem beruflichen Engagement bei der Polizei. „Ich hatte das Glück, mein Hobby zum Beruf machen zu können“, sagt er. „Und ich gehe immer noch jeden Tag gerne zum Training.“

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