Euro 2020 Die EM der Eigentore – woran liegt das?

Statistische Effekte, Definitions-Ungenauigkeiten, taktische Innovationen und die Rolle der Torhüter als Erklärungsansätze.

 Bei dieser EM gab es mehr Eigentore als jemals zuvor.

Bei dieser EM gab es mehr Eigentore als jemals zuvor.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Zehn Eigentore sind schon gefallen bei der Europameisterschaft – eins mehr als bei allen EM-Endrunden der Geschichte zusammen. Der Fakt hat zuletzt Schlagzeilen gemacht, weniger die Frage dahinter, die sich aufdängt: Woher kommt das? Spielen fußballerische und taktische Innovationen eine Rolle – oder schlicht statistische Effekte?

Dass man letztere berücksichtigen muss, liegt an der Entwicklung, die EM-Endrunden selbst genommen haben: In Richtung des aktuellen Mammutturniers mit 24 Teams und 51 Spielen. Der Modus greift nach 2016 zum zweiten Mal – damals fielen drei Eigentore, also nur eines in jedem 17. Spiel. Nun ereigneten sich Eigentore in etwas weniger als jedem fünften der bisher absolvieren 48 Spiele – was viel, aber noch kein statistischer EM-Rekord ist.

Denn das erste Eigentor der EM-Geschichte durch Anton Ondrus im Trikot der Tschechoslowakei im Halbfinale gegen die Niederlande reichte, um die Quote für das Jahr 1976 auf exakt jedes vierte Spiel zu drücken: Damals bestanden EM-Endrunden nur aus den Halbfinals, dem Finale und dem Spiel um Platz drei. Damit 2021 auch Eigentor-Quotentechnisch die Endrunden-Rekordmarke erreicht und nicht nur in absoluten Zahlen, müssten in den letzten drei Partien noch drei weitere Eigentore fallen.

Nun kann man 1976 angesichts der wenigen Spiele als statistischen Ausreißer einordnen – bei allen anderen EM-Endrunden waren auch im Verhältnis zu den Spielen deutlich weniger Selbsttore als 2021 gefallen. Und auch die Tatsache, dass die jüngste Weltmeisterschaft 2018 mit zwölf Eigentoren (in 63 Partien, Quote: alle 5,25 Spiele) die mit Abstand meisten aller Zeiten hervorgebracht hat, deutet darauf hin, dass sich etwas bewegt.

Liegt die Zunahme vielleicht an der Zählung selbst, an einem Wandel der Definition, was ein Eigentor ist? Dass diese Frage nicht trivial ist, zeigt die EM: Etwa beim 1:1-Ausgleich der deutschen Nationalelf gegen Portugal, als Kai Havertz gegen Ruben Dias am Fünfmeterraum in den Zweikampf ging. Erst die Zeitlupe (1976 in hoher Auflösung nicht existent) zeigte: Der Portugiese war zuletzt am Ball, also Eigentor.

Umgekehrt hat jeder gesehen, dass der Ukrainer Illya Zabarnyi im Achtelfinale den 23-Meter-Schuss des Schweden Emil Forsberg so entscheidend abfälschte, dass er unerreichbar für seinen Torwart Heorhiy Bushchan im Netz landete. Forsberg aber blieb Torschütze – im Sinne der von den führenden Verbänden Anfang des letzten Jahrzehnts präzisierten Definition für Eigentore.

Demnach wird dem Stürmer das Tor gutgeschrieben, falls sein Schussversuch klar erkennbar ist. Beim Eigentor müsse beim „abwehrenden Spieler eine kontrollierte Aktion in unbedrängter Situation“ vorliegen. Jedoch zeigt die Havertz/Dias-Szene, genau wie der im Viertelfinale abgelenkte Schuss von Jordi Alba (Spanien) durch den Schweizer Denis Zakaria, der sogar als Eigentorschütze gewertet wurde: Die Grenzen fließen, die Einordnung ist oft schwierig.

Mehrmals im laufenden Spiel geändert hat die Uefa im Achtelfinale gegen Kroatien den Schützen des spanischen Eigentores – am Ende blieb es Feldspieler Pedri. Er hatte einen Rückpass auf Unai Simón geschlagen. Der Keeper ließ ihn unter seiner Sohle ins eigene Tor durchrutschen. Der Treffer dient als Aushängeschild für eine Hauptkategorie der EM-Eigentore: Torwartfehler.

Drei weitere gingen auf das Konto der Schlussmänner: Polens Wojciech Szczesny und Finnlands Lukas Hradecky hatten Pech, dass vom Pfosten zurückprallende Schüsse über ihre eigenen Körper ins Tor sprangen, weil sie diese in der Abwehrbewegung nicht mehr kontrollieren konnten. Als Slapstick-Einlage in Erinnerung ist das Eigentor des Slovaken Martin Dubravka, der nach einem Lattenschuss den vor dem Tor herunterfallenden Ball in bester Volleyball-Manier ins eigene Netz schlug.

Der Vergleich zum legendären Aussetzer von Tomislav Piplica, der sich einen heransegelnden Ball selbst ins Tor köpfte, wurde im Internet zelebriert. Kaum Thema dabei war aber, dass Dubravka, im Gegensatz zum Ex-Keeper von Energie Cottbus, schon zuvor in einer Abwehraktion gefordert war – und dann direkt in die Sonne von Sevilla schauen musste.

Die meisten der restlichen Eigentore fallen in die Kategorie „erzwungen durch eine Spielverlagerung“ . Darunter alle Eigentore mit Beteiligung der deutschen Nationalelf: Der Havertz/Dias-Szene ging wie dem Eigentor von Raphael Guerreiro beim 4:2 gegen Portugal ein langer Pass hinter den zweiten Pfosten voraus, den ein dort postierter Außenangreifer schnell und scharf zurück vor das Tor brachte. Auch das Eigentor von Mats Hummels gegen Frankreich und das des Türken Merih Demiral im Auftaktspiel gegen Italien fiel ähnlich.

Jenen Spielzug – Verlagerung, scharfe Flanke, Eigentor – haben Taktikanalysten als Mittel für Ballbesitzteams herausgearbeitet, um eine tief stehende Abwehr zu knacken. Fallen also auch in Bundesliga und Champions League bald mehr Eigentore? In der letzten Saison sind die Zahlen in vielen Ligen tatsächlich leicht gestiegen. Taktikblogger Tobias Escher hält aber fest, dass sie im Zehn-Jahres-Vergleich weiter im Durchschnitt liegen. Es bleibt abzuwarten, ob eine EM wie so oft in der Vergangenheit als Trendsetter fungiert – oder ob die in der Regel besser aufeinander abgestimmten Abwehrreihen der Klubmannschaften dies zu verhindern wissen.

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