EM Die Viererkette als Konzept gegen England?

Analyse | REUTLINGEN · Sport-Analyst Ewald Lienen fordert die Viererkette für die Defensive der Fußballnationalmannschaft. Außerdem: Wer aktuell Chancen auf den WM-Sieg hat und wer nicht gut da steht.

Die Viererkette als Konzept im EM-Spiel gegen England?
Foto: dpa/Henning Kaiser

Ewald Lienen dient dem Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli als Marken- und Wertebotschafter, vorher war er dort Technischer Direktor, davor Trainer. Umweltbewegt, links, nonkonformistisch  und sozial engagiert war er schon als Profi, 333 Spiele in der Fußball-Bundesliga, die Süddeutsche Zeitung bezeichnete ihn jüngst als einen „frühen Leon Goretzka“. Trainerstationen in Deutschland, Spanien, Griechenland, Rumänen. 

Lienen fordert die Viererkette für die Defensive der Fußball-Nationalmannschaft. Er tut dies in seiner bekannten Art, Lienen kann sich echauffieren wie kein Zweiter, wenn er Reformen fordert – nicht nur im Fußball. Das müsse der „Übungsleiter“ doch  endlich erkennen, den Namen Joachim Löw erwähnt Lienen nie, nur den „Übungsleiter“. 

Lienen und der „Übungsleiter“

Lienen sitzt häufiger bei Markus Lanz als Experte, der Lienen  unzweifelhaft ist. Seine Analysen sind engagiert und unterhaltsam – und außerdem meist richtig. Womit wir bei der sportlichen Bilanz der Vorrunde dieser komischen Europameisterschaft sind. Der viermalige Weltmeister Deutschland hat sie bekanntermaßen auf Rang zwei hinter dem amtierenden Weltmeister Frankreich abgeschlossen, das kann sich in der schwersten Vorrundengruppe dieses Wettbewerbs  wirklich sehen lassen.

Wenn Löw auch noch mit der Viererkette gespielt hätte, wäre vermutlich auch das erste Spiel gegen Frankreich nicht verloren gegangen. Das ist natürlich pure Spekulation. Die deutsche Mannschaft steht im Achtelfinale gegen England im Wembley-Stadion am 29. Juni, aber der Bundestrainer sucht weiter nach dem Konzept.  

Aber wer ist denn nun nach den gezeigten Leistungen in der Vorrunde  der Favorit auf den Titel? Die Frage aller Fragen. Der Weltmeister Frankreich müsste es sein. Was wir gesehen haben, muss eher skeptisch stimmen. Italien und die Niederlande, kein Spiel verloren, Roberto Mancini macht einen Super-Job wie Frank de Boer. Aber bei Turnieren ist es immer so, dass die, die anfangs rauschend gewinnen, am Ende in die Röhre schauen. Das muss gar nichts heißen, ist aber Fußball-Wirklichkeit.

Die Belgier spielen ein großartiges Turnier, kein Spiel verloren, 7:1 Tore. Und in Romelu Lukaku einen Mittelstürmer, wie er im Buche steht. Wenn ihnen nur die Luft nicht ausgeht. Vergessen werden wir die Szenen aus dem Parken-Stadion zu Kopenhagen vermutlich lange nicht. Als sich ZDF-Kommentator Béla Réthy entschloss, seine Szenebeobachtung zu beenden und in die Sendezentrale zurückzugeben, wurde der dänische Spielmacher Christian Eriksen nach seinem dramatischen Zusammenbruch immer noch behandelt.

Die Wiederbelebung hatte Erfolg, Eriksen ist weitestgehend wohlauf, was für ein wunderbarer Tatbestand. Und was für eine Tat von Trainer Kasper Hjulmand, ehemals FSV Mainz 05, seine Mannschaft trotz dieses schicksalhaften Moments wieder in die Spur gebracht zu haben. Was besitzt dieser Mann für ein Charisma, der Trainer der Vorrunde. 1992 kamen die Dänen aus dem Urlaub und wurden Europameister, das muss 2021 nichts heißen, aber die Mannschaft sollte keiner unterschätzen. Diese Mannschaft spielt mit der emotionalen Kraft des auferstandenen Christian Eriksen.

Der  Kommentator der ARD, Tom Bartels, machte mit seinen emotionalen Schilderungen beim 4:1 gegen Russland erneut ein Meisterstück. Kritiker kritisierten das als zu subjektiv. Natürlich war es das, deshalb war es ja so gut. Danke Tom, großartig. Luis Enrique musste sich von den spanischen Tageszeitungen viel Kritik  gefallen lassen. Spanien gewann das letzte Vorrundenspiel gegen die Slowakei daraufhin mit 5:0, Spanien bleibt im Kreis der Favoriten. Wie England und Deutschland. 

Der Klassiker von Wembley Wembley

Diesen Klassiker nicht im Stadion verfolgen zu können, tut in der Seele weh. 45.000 Zuschauer sollen das Spiel sehen. 45.000 Zuschauer, in Halbfinale und Finale 60.000 im Wembley-Stadion, Frank-Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes, sagt: „Ich halte das für Populismus und kann nur von Reisen zu Spielen abraten.“ Dagmar Freitag von der SPD, Vorsitzende des Sportausschusses des deutschen Bundestages, nennt die Zuschauerzahlen in Wembley „unverantwortlich“. Premier Boris Johnson und die Europäische Fußball-Union Uefa kümmert das nicht. 

Die Enttäuschung dieser Europameisterschaft ist der Organisator. Die Europäische Fußball-Union Uefa hat mit dieser Veranstaltung den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verspielt, das wird zwar nichts ändern, aber eben auch von dieser Veranstaltung in Erinnerung bleiben. Natürlich hätte auch eine regenbogenfarbene Arena in München die menschenverachtenden Gesetze des Viktor Orbán in Ungarn nicht reformiert, ein Zeichen wäre es gewesen. Dass es anders kam, macht das Zeichen aber vielleicht noch wirkungsvoller.

Eindrucksvoll war – auch ohne Regenbogen – die Leistung der ungarischen Spieler beim 2:2 gegen Deutschland in München, vor dem italienischen Trainer Marco Rossi kann man nur den Hut ziehen. Wie gnadenlos eine Organisation einen sportlichen Wettbewerb gegen alle berechtigten Widerstände ins Ziel bringen kann – und wird, lässt niemand unberührt. Auch das gehört in die Bilanz der Vorrunde.

Das Konzept der Uefa ist ja kein Konzept wie das der Deutschen Fußball Liga DFL, um die Bundesliga ins Ziel zu bringen. Das Konzept der Uefa ist ein Diktat. Entweder ihr akzeptiert unsere Forderungen, oder die Euro findet ohne euch statt. Wer ausrichtende Städte zwingt, Zehntausende von Zuschauern zuzulassen, konterkariert das pandemische Geschehen in Europa. Dass Politiker im vereinten Europa das zulassen, kann einem entweder Angst machen oder an Europa zweifeln lassen.

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