Fußballnachwuchs Deutschlands Generation Zweifel

Düsseldorf · Der Sieg der deutschen U21-Nationalmannschaft gegen Englands Vorzeige-Fußballer macht deutlich, dass die nächste Generation besser sein könnte als befürchtet. Doch der neue Mut steht schon wieder auf dem Prüfstand.

Noch ist Lukas Nmecha ziemlich unbekannt. Ein kleiner Name im großen Fußballgeschäft. Aber wenn man den Vorhersagen von jenen Experten Glauben schenken darf, die über den Tellerrand der Aktualität hinausschauen und die Nachwuchsjahrgänge der großen Nationen im Blick haben mit all den kickenden Millionären der Zukunft, ist Nmecha von Manchester City absehbar ein umjubelter Stürmerstar in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

Das Besondere an Nmecha: Der 20-Jährige spielte am Dienstagabend im englischen Bournemouth das erste Mal für die deutsche U21-Nationalmannschaft, nachdem er zuvor über Jahre seinen Weg durch fast alle englischen Nachwuchsteams gegangen ist. Nmecha ist ein zentraler Angreifer, Mutter Deutsche aus Mönchengladbach, Vater aus Nigeria, aufgewachsen in Hamburg. Spiel- und durchsetzungsstark ist er, auch Torjäger. Also eigentlich alles, was man sich so wünschen kann. Erst kurz vor dem Freundschaftsspiel war die Spielberechtigung der Fifa durchgetickert, das Ganze war ein Krimi, aber dann eben doch einer mit einem Happy End. U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz hatte Nmecha für eine Karriere in Deutschland zuvor begeistern können.

Wohl auch, weil Nmecha eine markante Rolle spielt, wenn es darum geht, die auseinanderdriftenden deutsch-englischen Fußball-Entwicklungen der jüngsten Jahre zu analysieren: Während das Mutterland des Fußballs seit geraumer Zeit einen Nachwuchskicker mit Weltkarriere-Aussicht nach dem anderen ins Rennen wirft und die A-Nationalmannschaft von den Nachwuchsstars längst in beeindruckender Weise dominiert wird, ist der Tenor in Deutschland ein anderer: Dem DFB scheinen wohl eher dunklere Jahre bevorzustehen: Gerade hat die U 19 die EM-Teilnahme zum zweiten Mal in Folge verpasst, und die U 17 hat nach dem verpassten Gruppensieg mit den Gegnern Island, Slowenien und Weißrussland das EM-Ticket erst in der Verlängerung gelöst. Nmechas Entscheidung ist auf vielerlei Weise interessant: Vor zwei Jahren erzielte er bei der U-19-EM noch im Halbfinale und später auch im Endspiel die entscheidenden Treffer und sicherte England den EM-Titel. So einen zu bekommen – dafür darf man sich in den heiligen Hallen des DFB noch an der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt fröhlich abklatschen. Der Grund für den Wechsel tut aber aus deutscher Sicht auch ein bisschen weh: Offenbar sieht der 20-Jährige in den DFB-Kadern eine bessere Perspektive für sich als in England. Eben dort, wo spielstarke und zentrale Stürmer mit Torversprechen extrem selten geworden sind. Erst vor wenigen Tagen sagte Bundestrainer Joachim Löw in einem Interview, ihm fehle absehbar einer, wie es Mittelstürmer Miroslav Klose über Jahre gewesen sei. Ob Nmecha so einer werden kann?

Der deutsche Fußball muss derzeit offenbar mit Einfallsreichtum ausbügeln, was ihm in der fußballerischen Ausbildung zuletzt durchgegangen ist. Auch Lukas Bruder Felix Nmecha von Manchester City steht schon in Kuntz’ Fokus. Der ehemalige Topstürmer und Europameister von 1996 gesteht im „kicker Sportmagazin“ freimütig ein, in anderen Verbänden zu wildern, um den deutschen Talentmangel der nächsten Generation zu mindern. „Hinten dran haben wir auch noch die eine oder andere Idee, mit der auch noch keiner rechnet“, sagte Kuntz dem Sportmagazin. „Wir versuchen, kreativ und einfallsreich zu sein.“

Bis zum Start der EM muss Trainer Kuntz tüfteln

Ohnehin muss Kuntz in diesen Wochen bis zum Start der U 21-EM in Italien und San Marino (16. bis 30. Juni) tüfteln. Auch, weil Löw gerade die Generation Zukunft aufgerufen hat und mancher von Kuntz’ Nachwuchskräften wie Lukas Klostermann oder Maximilian Eggestein erste A-Länderspielerfahrungen machen durften, ob spielend oder auch auf der Bank. Womöglich war das ein längst überfälliges Signal an den Nachwuchs, dass sich Leistung jetzt noch mehr und schneller auszahlen könnte.

Denn mit der motivierten Leistung der verbleibenden U 21-Kicker beim 2:1-Sieg gegen EM-Favorit England durch die Tore des Dortmunders Mahmoud Dahoud (27.) und des Wolfsburgers Felix Uduokhai (90.) war in dieser Form kaum zu rechnen gewesen. Seit 2017 hatte eine englische U 21 schließlich nicht mehr verloren, der Marktwert der englischen Spieler übersteigt jenen der Deutschen angeblich um rund 100 Millionen Euro. Aber schon beim 2:2 gegen den Weltmeister-Nachwuchs aus Frankreich hatte die Kuntz-Elf durchaus aufhorchen lassen. Und: Acht aktuelle A-Nationalspieler könnten noch die U 21-EM spielen. Der derzeitige Umbruch im deutschen Fußball scheint also durchaus noch einmal zu gelingen, in diesen Tagen scheinen die Bedenken für eine Generation des deutschen Fußballs in Rekordzeit zu verwehen. Doch ob das so bleiben kann?

Die Experten haben Zweifel, gerade wird jeder Stein umgedreht: War die Titelschwemme vor wenigen Jahren noch groß – 2008 und 2014 war die deutsche U 19 noch Europameister, 2009 die U 17 und 2009 und 2017 die U 21 – sieht das jetzt deutlich titelloser aus. DFB-Präsident Reinhard Grindel mahnte gerade erst im Interview mit dieser Zeitung an, die Nachwuchskräfte seien mit allerhand Personal um sie herum deutlich zu verwöhnt. Außerdem raubten inzwischen englische und französische Nachwuchsspieler in Vielzahl die Talentplätze in der deutschen Bundesliga. Grindel wird dabei an Spieler wie die Dortmunder Jadon Sancho (England), Dan-Axel Zagadou oder den Leipziger Ibrahima Konate (Frankreich) gedacht haben. Auch im Nachwuchsbereich wird der Verdrängungswettbewerb größer, weil die deutschen Vereine längst begonnen haben, ausländische Spieler früh zu kaufen, wenn sie noch verhältnismäßig günstig zu bekommen sind. Ein Weg, der in Frankreich oder England längst normal ist. In der Uefa Youth League, der Königsklasse der Talente, haben seit der Gründung 2013 sechs spanische, vier englische und drei portugiesische Teams im Halbfinale gestanden, Schalke 04 war das einzige deutsche.

Und: Wolfsburgs Sportdirektor Jörg Schmadtke mahnte unlängst an, man habe die Anfang des Jahrtausends reformierte Ausbildung deutscher Talente nicht mehr hinreichend überprüft. Das wird seit Monaten intensiv nachgeholt im DFB, der Bau der neuen DFB-Akademie in Frankfurt soll nur Verstetigung dieser neuen Konzepte bedeuten – und nicht erst deren Beginn. So, wie die Engländer das 2012 begonnen haben und jetzt die Früchte ernten: Seinerzeit wurde das 120 Millionen teure St. George’s Park National Football Centre eröffnet, außerdem wurde die individuelle Aus­bildung der Spieler mit einem eigenen Elite-Plan neu justiert, der sich an den besten Elementen von Nachwuchskonzepten aus anderen Ländern orientiert hat. Herausgekommen ist eine neue Generation, die das Zeug hat, im kommenden Jahr Europameister zu werden.

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