Interview Ewald Lienen: „Wir sind keine Heiligen, aber wir haben Ideale“

Beim Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli lieben die Fans Ewald Lienen, der weit mehr als ein Trainer war.

Der Kult-Trainer, der kein Kult-Trainer sein will: Ewald Lienen vom FC St. Pauli jubelt über den 3:1-Sieg in Bochum am letzten Spieltag der Saison.

Der Kult-Trainer, der kein Kult-Trainer sein will: Ewald Lienen vom FC St. Pauli jubelt über den 3:1-Sieg in Bochum am letzten Spieltag der Saison.

Foto: Bernd Thissen

Hamburg. Beim Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli ist er Kult, die Fans lieben ihn. Als Trainer stand Ewald Lienen (63) in Hamburg kurz vor der Entlassung, sagten die, die keinen Einblick haben. Lienen blieb und führte den Zweitligisten vom letzten Tabellenrang mit 34 Punkten in der Rückrunde auf Platz sieben. Nun wechselt Lienen auf den Posten des Technischen Direktors.

Herr Lienen, was bedeuten Fans für Sie, was der Club?

Ewald Lienen: Fans bedeuten mir viel. Das ist Lebensqualität für mich. Wie ein Wandervogel von einem Club zum nächsten zu ziehen und keine Bindung zu den Fans aufzubauen, kann ich mir nicht vorstellen. Man hat immer mit Menschen zu tun. Mir war es immer wichtig, den Fans meinen Respekt zu zeigen. Vielleicht ist das der Grund, dass da immer etwas zurückkommt. Weil sich die Menschen ernst genommen fühlen.

Was bedeutet das für die Spieler?

Lienen: Bei uns beim FC St. Pauli geht es nicht nur um Fußball, sondern auch um die Idee, die dahintersteckt. Das ist auch für mich noch einmal eine andere Qualität. Nicht zu kämpfen, nicht zu laufen, das geht nicht. Das Publikum hat jedes Recht, kritisch zu sein. Zu unseren Spielen und Veranstaltungen, wie dem Holocaust-Gedenktag, kommen Fans aus aller Welt, aus Südamerika, Polen, Großbritannien, Skandinavien, Spanien und Uruguay. Leute, die eine Meinung vertreten, eine Meinung haben, ein Weltbild. Und die Leute wissen von mir, dass ich nicht gerade Anhänger der Philosophie der Deutschen Bank bin.

Was macht das mit dem Fußball, mit dem Trainer?

Lienen: Der Fußball an sich funktioniert in St. Pauli genauso wie in München oder Köln oder Bochum. Auch hier muss Geld erwirtschaftet werden. Hier wird vielleicht anders vermarktet wie an anderen Standorten. Mit Rüstungsunternehmen können wir nicht kooperieren. Meine Motivation ist, die Ideale dieses Clubs auf dem Rasen zu verteidigen, den Traum zu haben, mit diesem Club noch einmal in der Ersten Liga zu spielen. Wir sind keine Heiligen, aber wir haben Ideale. Wir bemühen uns. Auf jeder Ebene. Deshalb kommen Spieler aber nicht zu uns, weil sie Antifaschisten sind. Die Sehnsucht, die Romantik, man muss das relativieren, auch auf dem Kiez.

Aber angekommen sind Sie. Irgendwie?

Lienen: Natürlich. Wenn ich hier 30 Jahre früher aufgetaucht wäre und vor Tausenden von Menschen der Friedensbewegung gesprochen hätte, dann hätte ich vermutlich zum Sturm auf die Atomkraftwerke aufgerufen. Andere Zeiten.

Waren Sie ein Kult-Trainer?

Lienen:
Das sind Zuschreibungen, was fange ich damit an? Ich bin gerne ein Teil einer Kultur. Ein Teil von Werten, die ich lebe, die ich vertrete. Ich versuche, den Spielern zu vermitteln, dass Erfolg nicht nur auf dem Platz stattfindet, sondern durch Mentalität, Werte, Lebensregeln. Das Leben ist ein Marathonlauf, man kann nur erfolgreich sein, wenn man sich an die gesellschaftlichen Regeln hält. Respekt zeigt. Wenn das dazu führt, dass ich als Kult-Trainer gesehen werde, dann ist das okay, aber nicht, weil ich seit Jahrzehnten im Fußball durch die Gegend renne.

Wie erleben Sie die jungen Trainer?

Lienen: Es ist ja kein Verbrechen, jung zu sein. Es ist auch kein Verdienst, alt zu werden. Ich denke, dass ich mit 63 viel erlebt habe, Erfahrungen habe, die die jungen Kollegen noch nicht haben können. Meine Werte sind dieselben geblieben, mein Weltbild. Für mich ist es ein Privileg, älter geworden zu sein, gelassener, ruhiger. Ich war hektischer, unverzeihlicher, ungerechter, ich habe mich über die Dinge aufgeregt, über die ich mich heute nicht mehr aufrege. Es gibt nur wenige, die in jungen Jahren schon abgeklärt sind. Meiner Meinung nach geht das auch gar nicht, ohne Lebenserfahrungen gemacht zu haben. Dadurch sieht man die Welt etwas klarer.

Insgesamt hat man den Eindruck, dass die Dinge im Fußball aus dem Ruder gelaufen sind. Richtig?

Lienen: Schwer zu sagen. Wir müssen unbedingt aufpassen, dass wir die Menschen mitnehmen. Uns nicht abkoppeln. Ein Profifußball, der in Ländern stattfindet, in denen Leute nicht wissen, ob sie den morgigen Tag erleben, geht für mich nicht. Stadien in die Welt zu setzen wie beim Afrika Cup, bei der Weltmeisterschaft in Brasilien, Olympia in Rio oder in Athen, die verfallen, weil man sie nicht braucht, auch nicht. Das fliegt uns irgendwann um die Ohren, Sport zu finanzieren, den die Welt nicht braucht. Abseits jeder gesellschaftlichen Verantwortung.

Ihre Position zum Fußball aktuell?

Lienen: Unverändert. Ich liebe Fußball. Ich liebe das Spiel, wie viele andere Menschen auch. Ich will aber nicht Fußball spielen in einem Land wie 1978 in Argentinien zu Zeiten der Militärdiktatur. Und unsere Nationalspieler sagen hören, man sehe keine Unterdrückung. Wir sollten darauf achten, dass der Fußball nicht nur superreichen Investoren überlassen wird.

Hat der Fußball eine Zukunft?

Lienen: Der Fußball hat eine Zukunft, auf jeden Fall. Aber es kann nicht so weitergehen wie bisher. Es müssen Leute in die Organisation des Fußballs, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Was die Fifa veranstaltet, was das IOC oder auch die Uefa veranstalten, das ist nicht mehr normal. Dass die Politik das zugelassen hat und zulässt, das ist nicht normal.

Was stört Sie am meisten?

Lienen: Vor allem stört mich die Arroganz der Macht.

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