NRW-Wahl Was soll nach Schulz bloß aus den Sozis werden?

Die „Martin, Martin“-Rufe werden leiser, der Wind aus Würselen flaut ab. Der Spitzenkandidat ohne Programm könnte noch vor der NRW-Wahl unter die 30-Prozent-Marke rutschen. Was bleibt der Partei dann, die ganz hinter ihrem Kandidaten verschwunden ist?

NRW-Wahl: Was soll nach Schulz bloß aus den Sozis werden?
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Düsseldorf. „Herr Schulz aus Brüssel“, spottete CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn Anfang Februar leicht verzweifelt, „hat die SPD aus ihrer tiefen Depression erlöst. Dafür hat bisher viel heiße Luft gereicht.“

Fünf Wochen und eine verlorene Landtagswahl später kommentierte die „taz“ frech: „Erinnern Sie sich noch an den Martin-Schulz-Hype?“ Seit je sei die SPD die manisch-depressive unter den deutschen Parteien, diagnostizierte die schlaue „Zeit“ bereits im Januar: „Wie keine andere lässt sie sich vom Scheitern, auch vom Scheitern an den eigenen Ansprüchen, nach unten ziehen. Aber ebenso schafft sie es, sich mit Euphorie aufzuladen und ihre kommenden Siege zu feiern. So wie in diesen Tagen.“

Für die Freunde des Würselener Buchhandels könnte man so sagen: Die deutsche Sozialdemokratie ist das „Klärchen“ unter den Parteien. Keine zweite Vereinigung zur Erlangung und Ausübung politischer Macht ist der Geliebten aus Goethes „Egmont“, die von mächtigen Gefühlen hin und her gerissenen wird, so ähnlich wie die SPD; tragisch, faustisch, deutsch. In ihrer Partei-Hymne „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ geht es um Gesang, um Wälder und Gefühl in 26 Worten. Für „Klärchens Lied“ im Egmont (zweite Szene, dritter Aufzug), das das ganze Wesen des Mädchens zum vollendeten Ausdruck bringt, benötigte Goethe freilich nur 23 Worte:

Der Lieblings-Literaturkritiker Deutschen, Marcel Reich-Ranicki, mochte sich nicht festlegen, ob Goethes Intention wirklich eine Patientenbeschreibung in Reimform war. Doch was sollte das sprichwörtlich gewordene „Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt“ anderes wiedergeben als einen Krankheitsverlauf? „Wir haben es“, räumte Reich-Ranicki ein, „mit einem insofern krankhaften oder zumindest scheinbar krankhaften Fall zu tun, als die raschen und heftigen Schwankungen zwischen Euphorie und Melancholie, von denen hier die Rede ist, keinen rationalen Grund haben.“

Bei der SPD hört dieser fehlende rationale Grund aktuell auf den Namen Martin Schulz. Um auf den Punkt zu kommen: Angst und Größenwahnsinn — das sind die beherrschenden Gemütszustände der Sozis, und zwischen ihnen schwankt die SPD panisch und entfesselt hin und her. Weder bei einer bipolaren Persönlichkeitsstörung noch in der SPD-Parteigeschichte geht das lange gut, und bislang hat der Kandidat Schulz nicht zu erkennen gegeben, ob er irgendeine Qualität mitbringt, die die ihm angetragene Liebe der Partei rechtfertigt.

Er hat natürlich diese Biografie nach deutschem Samstagnachmittag-Geschmack (für den Bundesliga-Aufstieg gerackert, schicksalhaft abgestürzt, kometenhaft wieder auferstanden). Doch wohin trägt das? Und wie lange?

Schulz reist durchs Land. Sonntag Köln, Montag Düsseldorf, Dienstag zu einer Fischräucherei und einer Pumpenfabrik, Donnerstag nach Oberhausen. Vom politischen Aschermittwoch in Schwerte über die Kandidatenkür in der Berliner Arena bis zum Essener NRW-Wahlkampfauftakt auf Zollverein hat Schulz die immer gleiche Sprechoper von der sozialen Gerechtigkeit und den hart arbeitenden Menschen vorgetragen.

Die Personen der Handlung: der 50-Jährige, der nicht schlafen kann, der ehrbare Bäcker gegenüber dem Kaffeekonzern, die gefeuerte Kassiererin und der Manager-Millionär. Statt zu fragen, ob Schulz eigentlich auch noch ein anderes Lied kann (bei der Partei-Hymne verwechselt er schon mal „klingen“ und „singen“), ruft die Partei nach jeder Aufführung „Martin, Martin!“. Noch.

Denn was, wenn das alles nur ein großes Missverständnis ist? Schließlich verzeichnen alle Parteien seit der US-Wahl steigende Mitgliederzahlen. Was, wenn es gar nicht an Schulz liegt? Dann wird es zunächst einmal noch schlimmer, und zwar unmittelbar nach der Schleswig-Holstein-Wahl am 7. Mai. Denn natürlich wird Ministerpräsident und SPD-Spitzenkandidat Torsten Albig die Wahl für sich entscheiden. Zur Erinnerung: Im Sommer 2015 war Albig noch der Ansicht, die SPD brauche eigentlich gar keinen eigenen Kanzlerkandidaten; die Merkel mache das doch gut. Im Frühjahr 2017 äußert er freimütig, dass Schulz bloß ein Name für den Effekt ist, „dass der Deckel von einer Partei geflogen ist, die einfach unterbewertet war“.

Albigs Ergebnis wird klar über den 30 Prozent liegen, auf die Schulz und die Bundespartei vorerst in den Sonntagsfragen gefallen sind. Nur wirkt an der Küste nicht der Schulz-, sondern der „Scholz-Effekt“. Albig lässt den Ersten Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, im Großstadt-Umland der Hansestadt Wahlkampf machen, wo die Menschen nach Albigs Ansicht gar nicht wissen, dass sie in Schleswig-Holstein wohnen. „Die finden den Olaf Scholz gut. Und dann wählen sie die SPD, also mich“, sagt Albig. Das Leben an der Küste könnte schön sein, wäre da nicht Ralf Stegner, Landes- und Fraktionsvorsitzender der Nord-SPD. Schon um Albig zu ärgern, wird Stegner am Wahlabend in jedes Mikrofon posaunen, der Schulz-Zug rolle jetzt geradewegs ins Kanzleramt — und damit alles noch schlimmer machen.

Längst zeichnet sich am Horizont ab, wie das Verderben der SPD seinen Lauf nehmen könnte: Die Partei ruft verzweifelt „Martin, Martin!“, während die Umfragewerte der Kanzlerin weiter steigen. Die SPD gewinnt (wahrscheinlich) NRW, und die Umfragewerte der Kanzlerin steigen immer noch — bis die Partei irritiert „Martin? Martin?“ fragt. Irgendwann dann werden auch die berüchtigten „Kreise“ der SPD-Bundestagsfraktion wieder erwachen, die konservativen „Seeheimer“, die „Parlamentarische Linke“ und das „Netzwerk Berlin“. Noch ruht still der Schwielowsee, aber zusammen sind sie rund 180 politische Piranhas, deren Bundestagssitze auf dem Spiel stehen, und die im Rudel jagen werden, wenn Schulz es zu versauen droht. Am 25. Juni ist Programmparteitag.

Schulz gehört keinem dieser Klüngel-Trupps an, er hat keine Hausmacht. 2001 schwang er sich zum Wortführer einer geheimnisumwitterten Truppe namens „Nürnberger Mitte“ auf, benannt nach dem damaligen Ort eines Bundesparteitags. Vollmundig und öffentlich verkündete Schulz dort laut „FAZ“: „Die Nürnberger Mitte bringt eine Neusortierung in der SPD. Sie birgt Sprengstoff. Sie steht für politische Macht.“ Damals habe Schulz die 35-Stunden-Woche kippen wollen und darüber gewitzelt, dass bei der SPD aber leider der „ANC“ entscheide — der „Andrea-Nahles-Club“. Nahles soll erwidert haben, zur Nürnberger Mitte fielen ihr nur Nürnberger Würstchen ein. Angehört haben sollen dem inzwischen wohl inaktiven Kreis unter anderem Walter Riester, Rudolf Scharping, Ulla Schmidt, Kurt Beck, Wolfgang Clement, Matthias Platzeck — und Sigmar Gabriel.

Gabriel ist aktuell in den Umfragen beliebter als Schulz, für den er den zweiten Verzicht auf eine eigene Kanzlerkandidatur in seiner Karriere verkündet hat. Vielleicht fragt er sich inzwischen, wie es eigentlich weitergeht. Mit ihm und der Partei und überhaupt. Nach Schulz.

Im „Egmont“ ist für das manisch-depressive Klärchen am Ende die Fallhöhe von der Euphorie in den Abgrund zu groß; sie bringt sich um. Und als Zuschauer denkt man: Hätte sie mal auf ihre Mutter gehört. Denn die kommentiert das „Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt“ der Tochter schon in der zweiten Szene mit den nüchternen Worten: „Lass das Heiopopeia.“

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