Die Grünen-Chefin im Interview „Veränderung und das Neue gehören zu Europas DNA“

Die Grünenvorsitzende Annalena Baerbock über Kurzflüge, Mutlosigkeit in der EU und die erste Bewährungsprobe der Parteispitze.

 „Beim Klimaschutz geht es vielen Jüngeren derzeit viel zu langsam. Mir auch.“ Annalena Baerbock, seit Januar 2018 zusammen mit Robert Habeck Bundesvorsitzende der Grünen, bei ihrem Besuch in der Redaktion.

„Beim Klimaschutz geht es vielen Jüngeren derzeit viel zu langsam. Mir auch.“ Annalena Baerbock, seit Januar 2018 zusammen mit Robert Habeck Bundesvorsitzende der Grünen, bei ihrem Besuch in der Redaktion.

Foto: Zanin, Melanie (MZ)

Frau Baerbock, wie sind Sie aus Berlin angereist?

Annalena Baerbock: Mit dem ICE. Aber schon gestern Nacht.

Wir fragen, weil der sozialdemokratische EU-Spitzenkandidat Frans Timmermans Kurzstreckenflüge abschaffen will. Teilen Sie diese Meinung?

Baerbock: Auch mir ist unbegreiflich, warum es manche Kurzstrecken überhaupt gibt. Zwischen Berlin und Hamburg zum Beispiel, wo der Zug genauso schnell ist, ist Fliegen nicht nur aus ökologischen Gründen absurd. Ähnlich ist es ja bei Innenstädten mit dem SUV im Vergleich zur U-Bahn. Es geht daher für mich darum, die Bahn und den öffentlichen Nahverkehr zum Rückgrat der Mobilität zu machen. Neben klarem Ordnungsrecht braucht es auch eine Steuerung über den Preis. Fliegen darf nicht günstiger sein als Bahnfahren. Deswegen treten wir auch für eine klare CO2-Bepreisung ein. Und wir brauchen einen massiven Ausbau von Zugverbindungen.

Aber Bahnstrecken auszubauen, dauert.

Baerbock: Ja, aber gerade auch, weil im Bundeshaushalt darauf nicht die Hauptpriorität gelegt wird. Das meiste öffentliche Geld geht nicht in die Schiene, sondern in die Straße. Deswegen brauchen wir auch eine umfassende Bahnreform. Und wir dürfen das Fliegen nicht weiter subventionieren, indem wir hier auf die volle Mehrwert- und die Kerosinsteuer verzichten, aber für Bahntickets 19 Prozent zahlen. Klimaschädliches Verhalten muss seinen Preis haben.

Sie haben von 2005 bis 2008 für die Europaabgeordnete Elisabeth Schroedter gearbeitet. Wie hat sich Europa seither verändert?

Baerbock: Das war die Zeit nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum, mit dem eigentlich der Schritt zu einer gemeinsamen Verfassung für Europa gemacht werden sollte. Danach sind leider die Konservativen und auch große Teile der Sozialdemokraten Europas in politische Mutlosigkeit verfallen, statt Europa weiterzubauen. Einer der Gründe für das Scheitern der Verfassung wurde aus meiner Sicht überhaupt nicht aufgearbeitet. Damals hatten die Menschen das Gefühl, dass Europa bei wirtschaftlichen Projekten wie dem Binnenmarkt eng zusammenarbeitet, aber das Soziale vernachlässigt. Gemeinsame soziale Standards erreichen wir aber nur in Europa, wenn nationale Regierungen bereit sind, auch hier stärker zusammenzuarbeiten. Es geht daher aus meiner Sicht vor allem um die Frage: Finden wir wieder die Kraft für eine gemeinsame Steuer-, Sozial- und Innenpolitik in Europa? Dafür braucht es progressive Kräfte.

Glauben Sie, dass sich der FPÖ-Skandal bei der Europawahl über die Grenzen Österreichs hinaus auswirkt?

Baerbock: Dieses Video und auch das, was die FPÖ jahrelang in Österreich betrieben hat, zeigt, dass die Rechtsnationalisten offensichtlich eine Aushöhlung der Demokratie vorantreiben wollten. Das muss eine Lehre sein für alle Parteien in Europa, gerade auch in Deutschland, dass man mit Rechtsnationalisten nicht zusammenarbeiten kann. Sie verachten unsere Werte, unser Europa und unsere Demokratie.

Würden Sie auch den Begriff der Schicksalswahl verwenden?

Baerbock: Für mich ist das eine Richtungswahl und keine Schicksalswahl. Die europäische Integration war immer wieder von Krisen und Gegenwind geprägt. Denken wir nur an die Gründungsväter und -mütter der EU. Sie haben nach der schwärzesten Stunde Europas trotz starker Widerstände entschieden, wieder zusammenzuarbeiten. Bei der  Einführung des Euro gab es große Kampagnen dagegen, auch die Osterweiterung war lange Zeit eine Vision.  Veränderung und das Neue gehören zu Europas DNA. Darauf sollten wir weiterbauen. Die Klimakrise, die Globalisierung, die Digitalisierung können wir nur gemeinsam und mit Mut zur Veränderung angehen. Wenn Politik aus Sorge vor gefühlten Stimmungen nur den Status quo verteidigt, werden wir auf mittlere Sicht nur verlieren.

Sind es wirklich nur gefühlte Stimmungen, die die Nationalisten in vielen Ländern nach vorne treiben?

Baerbock: Natürlich hadern Menschen immer wieder mit politischen Entscheidungen, auch auf europäischer Ebene. Beim Klimaschutz geht es vielen Jüngeren derzeit viel zu langsam. Mir auch. Aber das ist etwas komplett anderes, als das gemeinsame Europa infrage zu stellen. Und entsprechend  sagen auch mehr als 80 Prozent der Menschen, sie wollen das gemeinsame Europa. Es geht also nicht um weniger Europa, sondern um eine andere Politik in Europa.

Viele hadern auch mit der Flüchtlingspolitik.

Baerbock: Auf globale Herausforderungen wie einen unregulierten Finanzkapitalismus, die Digitalisierung und auch Migration und Flucht kann man heute nicht mehr rein national antworten. Dass die nationalen Regierungen Europas nicht die Kraft zu einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik haben, war und ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die für nationale Grenzen plädieren. Aber dieses Schwarz-Weiß-Denken, dass  Europa versagt hat, teile ich nicht. Im EU-Parlament gibt es einen fraktionsübergreifenden Beschluss mit einem Vorschlag für einen europäischen Verteilmechanismus von Geflüchteten. Den müsste man endlich umsetzen.

Und was passiert mit denen, die sich nicht beteiligen?

Baerbock: Man sollte vor allem einen Anreiz für diejenigen schaffen, die sich beteiligen. So war es auch beim Euro oder bei Schengen. Mit der aktuellen Haltung, auch der deutschen Bundesregierung, wir warten noch auf den Letzten, bevor wir uns wieder bewegen, müssten wir heute noch unsere Pässe zwischen Aachen und Lüttich zeigen.

Eigentlich müsste das weltpolitische Geschehen Europa doch wieder näher zusammenbringen.

Baerbock: Ja, oder wir werden national untergehen. Um das zu verhindern, muss aber die Bereitschaft vorhanden sein, auch in den Kernfeldern, in denen man früher allein entschieden hat, stärker zusammenzuarbeiten. Darum halte ich auch nichts von der rein nationalen Industriestrategie von Bundeswirtschaftsminister Altmaier. Europa hat nur als gemeinsamer Wirtschaftsraum die Chance, sich gegenüber China aufzustellen. Und dafür braucht es klare europäische Regeln. Für mich heißt das auch, kritische Infrastruktur und öffentliche Infrastruktur zu schützen. Es wäre fatal, wenn durch den Einstieg von Huawei in das 5G-Netz unsere Daten nicht mehr  geschützt sind.

Sie plädieren also dafür, dass Huawei bei 5G nicht mitmachen darf?

Baerbock: Genau. Das heißt nicht, dass per se ausländische Firmen unerwünscht sind. Der europäische Binnenmarkt zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht diskriminiert. Aber man muss sich an europäisches Recht halten. Dazu zählt die Sicherheit unserer Daten. Und die erfüllt Huawei derzeit nicht, weil es ein chinesisches Gesetz gibt, das das Unternehmen  zur Datenweitergabe verpflichtet. Aber mir geht’s um mehr als 5G. Grundsätzlich plädiere ich dafür, sensible Infrastruktur in öffentlicher Hand zu halten. Europa muss in die eigene Infrastruktur investieren, sonst tun es andere.

Für Sie und Robert Habeck wird die Europawahl zur ersten großen Bewährungsprobe. Haben Sie Angst vor dem Scheitern?

Baerbock: Nein, Angst ist grundsätzlich ein schlechter Ratgeber. Aber natürlich sind gute Stimmungen noch keine Stimmen. Deswegen hängen wir uns als Parteivorsitzende auch so in den Europawahlkampf rein. Jede Stimme zählt.

Haben Sie ein konkreteres Wahlziel, als die 10,7 Prozent von 2014 zu übertreffen?

Baerbock: Natürlich hoffe ich sehr, dass wir deutlich mehr Zuspruch erhalten. Diese Wahl ist nicht zuletzt auch eine Klimawahl. Aber das Wichtigste für mich ist, dass diesmal deutlich mehr Menschen überhaupt wählen. Vor fünf Jahren ist noch nicht einmal jeder zweite Deutsche zur Europawahl gegangen.

Habeck der fluffige Wuschelkopf, der immer mal als grüner Kanzler gehandelt wird, Sie als die taffe Newcomerin, die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt: Geht Ihnen diese Erzählung manchmal schon auf den Wecker?

Baerbock: Ich habe gar nicht die Zeit, diese ganzen Beschreibungen zu lesen. Die Kluft zwischen der Politik und dem Alltag lässt sich nur überwinden, wenn man mit Menschen ins Gespräch kommt. Und deswegen bin ich einfach viel im Land unterwegs.

Wie groß ist Ihr und Robert Habecks Anteil am Höhenflug der Grünen?

Baerbock: Ich glaube, unsere Stärke derzeit als Grüne ist, dass wir nicht ständig um uns selbst als Partei kreisen, sondern uns dem widmen, wie man die Probleme unserer Zeit wirklich lösen kann.

Wird Greta Thunberg gerade mit Erwartungen belastet, denen sie als Schülerin unmöglich gerecht werden kann?

Baerbock: Das Wachrütteln der politischen Debatte durch Greta zeigt, dass man viele Anträge schreiben und einbringen kann, aber manchmal eine einzelne Stimme notwendig ist, die das Ganze auf eine ganz andere Art angeht. Und ich hoffe, dieses Wachrütteln ist nicht zu spät gekommen.

Hilft der Protest der Schüler auch den Grünen?

Baerbock: Er hilft hoffentlich, dass jetzt allen klar ist: Mit diesem Nichtstun kann es nicht weitergehen. Es muss endlich ein deutsches Klimaschutzgesetz eingeführt werden. Und wir brauchen ein klares Kohleausstiegsgesetz und ein gesetzliches Ende für den fossilen Verbrennungsmotor.

Was muss europaweit passieren?

Baerbock: Die EU muss umgebaut werden zu einer Union der erneuerbaren Energien von Spanien bis Finnland, sodass wir die teuren Importe fossiler Energie nicht mehr benötigen. Bis 2050 muss Europa  klimaneutral sein. Nicht nur im Sinne des Klimaschutzes, sondern auch um die europäische Industrie wettbewerbsfähig zu halten und Arbeitsplätze zu sichern. Nachhaltigkeit muss zur Leitlinie europäischer Wirtschaftspolitik werden. Nur so wird das Auto und auch der Hochofen der Zukunft bei uns und nicht in China gebaut.

Verzweifeln Sie nicht manchmal an der Langsamkeit der Politik?

Baerbock: Ja, auch ich hadere manchmal sehr. 2050 ist meine jüngste Tochter, die mit mir als Baby bei der Pariser Klimakonferenz war, 35 Jahre alt. Wir Politikerinnen haben es heute in der Hand, ob sie uns mal vorwerfen wird, dass wir ihrer Generation  einen Scherbenhaufen hinterlassen haben. Andererseits: Drei Jahrzehnte sind für Innovation und Technologiesprünge nicht wenig. Vor 30 Jahren haben wir uns noch Briefe und Faxe geschickt statt E-Mails und Tweets. Es geht darum, heute die richtigen Weichen zu stellen.

Welche Machtoptionen sehen die Grünen derzeit dafür?

Baerbock: Die große Koalition wurde für diese Legislaturperiode gewählt und muss jetzt ihren Job machen. Alle anderen Spekulationen, wer mit wem könnte oder sollte, sind vergeudete Zeit. Mit wem was geht, entscheiden aber in einer Demokratie zum Glück die Wählerinnen und Wähler.

Apropos „Mit wem was geht“: Wie vereinbart Ihr Mann Daniel Holefleisch seinen Job bei der Deutschen Post DHL Group mit Ihren zwei kleinen Töchtern?

Baerbock: Dankenswerterweise hat er seine Arbeitszeit reduziert, wir haben eine Babysitterin und wie bei vielen jungen Familien gibt’s auch bei uns, wenn es hart auf hart kommt, immer wieder den Notnagel, Großeltern anrufen. Aber ich habe mir bei meinem Amtsantritt auch geschworen: Ich will nicht aufhören, Mutter zu sein, bloß weil ich Parteivorsitzende bin. Ich habe einen mir heiligen Kindertag in der Woche. Daher ist es gut, dass unser Interview nicht am Mittwochnachmittag stattfindet.

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