Interview mit Martin Schulz WZ-Interview: Martin Schulz attackiert Angela Merkel scharf

Martin Schulz wirft Angela Merkel Gewissenlosigkeit vor und nennt sie eine "Weltmeisterin des Ungefähren". Für den 24. September hofft er auf die unentschiedenen Wähler.

 SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Interview.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz im Interview.

Foto: krohnfoto

Berlin. TV-Duell, Gillamoos-Rede, Termine in Berlin, Wahlkundgebungen. Das alles seit Sonntag. Martin Schulz steht unter Strom. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff erlebte einen SPD-Kanzlerkandidaten, dem trotz schlechter Umfragewerte die Kampfeslust nicht abhanden gekommen ist.

Herr Schulz, viele Leser fragen sich: Wie motiviert sich der Mann bei einem so großen Rückstand. Also: Wie machen Sie das?

Martin Schulz: Ich muss mich nicht motivieren. Ich will Bundeskanzler werden. Und ich lasse mich nicht von Umfragen beeindrucken. Ich kämpfe bis zum 24. September, 18.00 Uhr. Und die ganze SPD und viele Unterstützer mit mir. Das gibt mir Kraft. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Zukunft gestalten müssen. Diese Überzeugung ist mein Motiv. Sich wegen taktischer Erwägungen alles und jedem anzupassen, wie Frau Merkel beim TV-Duell, das mache ich nicht.

Hat Ihnen der Verlauf der Fernsehdebatte noch einmal einen Adrenalinschub gegeben?

Martin Schulz: Nicht wirklich, ich wusste immer, dass es nur eine Etappe auf dem Weg zum Wahltag ist. Ich wäre ja auch zu einem zweiten Duell bereit. Eine der entscheidenden Fragen bei diesem Duell war: Kann der Schulz Bundeskanzler? Ist er in der Lage, das Land zu führen? Ich glaube, die Leute haben gesehen: Ja, man muss nicht in allem mit ihm übereinstimmen, aber er könnte das.

Überraschend war, dass Sie in der Türkeifrage jetzt da gelandet sind, wo Merkel immer schon war. Nämlich kein Beitritt. Gibt es in Sachen Türkei jetzt keine Unterschiede mehr zwischen Union und SPD?

Martin Schulz: Doch, es sind an diesem Punkt im Duell ja Unterschiede deutlich geworden. Es gibt Momente im politischen Leben, da muss man sich entscheiden. Die Entscheidung zur Türkei ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe mehrere Europa-Wahlkämpfe für die SPD geführt, in denen ich die EU-Mitgliedschaft der Türkei verteidigt habe. Aber es ist Herr Erdogan, der die Demokratie abbaut und alle Türen nach Europa zuschlägt. Jetzt muss man in Ankara die Haltung durchbrechen, die da lautet: Das wagen die nie. Wir müssen deutlich machen: Oh doch, wir können und wir werden diese harte Antwort geben. Aber selbst in dieser Situation hat Frau Merkel versucht, sich herauszuwinden. Sie ist eine Weltmeisterin des Ungefähren.

Was kann die Stimmung in den verbleibenden zweieinhalb Wochen noch drehen?

Martin Schulz: Fast jeder Zweite hat sich noch nicht entschieden. Das Duell hat vielen erst die Alternativen verdeutlicht. Viele halten sich die Antwort, wer dieses Land führen soll, bis zuletzt offen.

Die meisten wollen eine Fortsetzung der großen Koalition.

Martin Schulz: Der Grund ist die erfolgreiche Arbeit der SPD in dieser Koalition. Die SPD hat die große Koalition geprägt. Wenn die Menschen das gut fanden, müssen sie SPD wählen, denn mit mir als Kanzler können wir noch viel mehr durchsetzen.

Wollen Sie sagen, eine große Koalition unter Führung der SPD wäre gut, und eine unter Führung von Angela Merkel wäre nicht so gut?

Martin Schulz: In Deutschland werden Parteien gewählt, nicht Koalitionen. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Und ich glaube nicht, dass Frau Merkel Vizekanzlerin werden will.

Es geht aber um realistische Machtperspektiven. Ist es inhaltlich realistisch, dass es zu einer Zusammenarbeit zwischen SPD, FDP und Grünen kommt?

Martin Schulz: Wer nach der Wahl mit uns regieren will, kann — auf der Grundlage unseres Regierungsprogrammes — auf uns zukommen.

Ist es realistisch, dass es zu einer Zusammenarbeit zwischen Grünen, Linken und der SPD kommt?

Martin Schulz: Wer nach der Wahl mein Regierungsprogramm unterschreibt, kann auf uns zukommen. Da stehen ein paar sehr wichtige Punkte drin. Eine Koalition unter meiner Führung stellt nicht den Euro in Frage oder die multinationalen Verpflichtungen Deutschlands oder die Nato. Das muss jeder akzeptieren.

Was ist Ihre Erklärung dafür, dass das Thema soziale Gerechtigkeit nicht so zieht wie erwartet?

Martin Schulz: Da mache ich ganz andere Erfahrungen. Es gibt bestimmt viele Leute, die sagen, "die Merkel macht das auf internationaler Ebene ganz gut. Aber meine Miete explodiert, mein Arbeitsplatz ist nicht sicher, die Automobilindustrie schlingert, habe ich später genug Rente?" Und so weiter. Deutschland geht es gut, aber es geht nicht allen Menschen gut. Deutschland kann mehr.

Zugleich denken die Deutschen aber sehr kooperativ: Trotz einiger sozialer Probleme möchten sie mehrheitlich keine grundlegenden Veränderungen, weil sie sagen, die Gesamtlage, das Wirtschaftswachstum etwa oder auch die Arbeitsmarktsituation, ist gut und das soll so bleiben.

Martin Schulz: Es mag sein, dass die Wähler keine fundamentalen Veränderungen wollen. Aber dieses bräsige Sich-Zurücklehnen, dieses „Es geht uns doch gut“, wie es Angela Merkel im Duell vorgeführt hat, das macht vielen auch Sorge. Die Vergangenheit verwalten reicht nicht. Merkel hat keine Idee für die Gestaltung der Zukunft. Nach dem TV-Duell führte ich in einer Umfrage bei den 18- bis 34jährigen mit 48 zu 23 Prozent. Das heißt, die Menschen, um deren Zukunft es geht, spüren genau, dass es so wie jetzt nicht bleiben wird, wenn wir nichts tun.

Sie haben relativ spät das Zukunftsthema Bildung in den Vordergrund des Wahlkampfes geschoben. Dafür sind aber die Länder zuständig. Wollen sie den Bildungsföderalismus abschaffen?

Martin Schulz: Nein. Bildung ist schon immer das Thema der SPD. Aber wir müssen den Föderalismus modernisieren. Die Leute haben die Nase voll, dass alle über Bildung reden, aber der Bund nichts macht. Wir liegen bei den Bildungsausgaben im unteren Drittel der OECD-Staaten. Unsere Position ist: Die Länder sollen gemeinsame Ziele definieren und der Bund soll mit zusätzlich zwölf Milliarden Euro helfen bei der Sanierung, Modernisierung und digitalen Ausstattung von Schulen.

Die FDP verlangt sogar eine Steigerung der Bildungsausgaben um 50 Prozent und hat das Thema ganz zentral gestellt. Ist sie in dieser Frage der geeignete Partner für sie?

Martin Schulz: Für uns wird die Bildungspolitik — mit wem auch immer wir verhandeln - einer der zentralen Bestandteile eines zukünftigen Koalitionsvertrages sein.

Ein Wahlkampf fordert alles von den Spitzenkandidaten und holt alles aus Ihnen heraus. Haben Sie eine Eigenschaft bei Angela Merkel entdeckt, die Sie so vorher nicht kannten und die sie überrascht hat?

Martin Schulz: Ja. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie aus taktischen Gründen etwas akzeptiert, was sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren kann. Die Ehe für alle. Nachdem ich - wie auch Grüne und FDP - gesagt hatte, dass ich keinen Koalitionsvertrag ohne die Ehe für alle unterschreibe, hat sie gesagt, das sei eine Gewissensentscheidung und die Abstimmung freigegeben. Und dann selbst dagegen gestimmt. Dass man sogar bei einer Gewissensfrage noch taktisch abstimmt, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Haben Sie auch bei sich etwas entdeckt, was sie so nicht kannten?

Martin Schulz: Ja, dass ich mehr Geduld besitze, als ich selbst dachte.

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