Uerdingen: Die Stadt am Rhein hat Charme

Mit dem Uerdinger Original Karl Engels streift die WZ durch die Straßen am Markt.

Krefeld-Uerdingen. Ob er sich vorstellen kann, aus Uerdingen wegzugehen? Karl Engels zieht die Brauen hoch und schaut den Fragesteller strafend an. Als habe der vorgeschlagen, den Rhein in die Krefelder Innenstadt umzuleiten. „Wenn ich den Turm von St. Peter nicht sehe, werde ich krank“, lautet die Antwort. Thema erledigt.

Der 90-Jährige hat sein ganzes Leben in der Rheinstadt verbracht. Man könnte ihn ein Uerdinger Original nennen, aber das würde seinen Status nur unzureichend beschreiben. Engels kennt hier jeden Stein. Beim Spaziergang kommt er aus dem Grüßen, Plaudern und Frotzeln kaum heraus.

Der Uerdinger Zungenschlag, der dabei hörbar wird, klingt ein bisschen Kölsch: „Die Sprachgrenze verläuft durch Bockum“, sagt Engels. „Der Krefelder hackt die Worte, das klingt sehr gewöhnlich. Wir singen regelrecht.“

Solche kleinen Spitzen verteilt Karl Engels am laufenden Band. Nirgendwo im bunten Gemisch der Krefelder Stadtteile ist das Selbstbewusstsein so ausgeprägt wie in Uerdingen. Die Eingemeindung von 1929 gilt hier immer noch als Irrtum der Geschichte.

Tatsächlich: In den Straßen rund um den Marktplatz sucht man die Spuren der Seidenbarone vergeblich. Statt den von der Leyens begegnet man hier den Familien ter Meer oder Herbertz. Die Geschichten ihrer prachtvollen Villen und Herrenhäuser in der Altstadt und am Rhein kennt Engels aus dem Effeff.

Aber bei seiner Führung geht es ihm weniger um historische Daten und Fakten. Ihm reicht es, wenn die Leute die Augen öffnen für die kleinen Schönheiten Uerdingens: „Man sollte nicht nur unten in die Läden gucken, sondern auch mal hoch in die erste Etage.“ Die Statue vom „wilden Mann“ findet man dort oder witzige kleine Reliefs, die ganze Anekdoten erzählen.

Karl Engels lässt ein Uerdingen voller Geschichte und Geschichten lebendig werden. Als er klein war, gab es rund um die Altstadt noch vier Zuckerfabriken und passend dazu eine Firma, die Reklame auf Würfelzucker-Päckchen druckte. „Als Junge habe ich mir die Aufdrucke von Rio oder Tokio besorgt und stolz erzählt, wo ich angeblich überall gewesen war.“

Auch die Chemiefabrik, die sich am Rhein ausgebreitet hat, kennt Karl Engels von klein auf. „Seit ich denken kann, ist da Industrie“, sagt er. „Zu Glanzzeiten haben dort 11.000 Leute gearbeitet. Das ist kein Fremdkörper, das gehört einfach dazu.“

Schließlich brachte die Industrie den Wohlstand nach Uerdingen: „Hier wurde mehr Geld verdient als in Krefeld“, erzählt Engels. Die Fabrikanten sorgten gut für ihre Mitarbeiter — und fanden schon damals im „Casino“ am Rheinufer Zerstreuung. „Normalsterbliche gehen da nicht rein“, erklärt Engels. „Das war schon immer für die feine Gesellschaft.“

Auch die Hafenanlagen in Richtung Süden gehören zu Uerdingen, seit Engels denken kann. „Meine Mutter hat am heutigen Hafenkopf noch Gänse gehütet.“ So gern Krefeld heute vergisst, dass es am Rhein liegt, so fest gehört der Fluss zur Uerdinger Identität: „Wenn der Rhein mir alle Sachen wiedergäbe, die ich beim Paddeln und Schwimmen verloren habe, könnte ich mich schön anziehen.“

Als Jugendlicher ist Engels im Sommer oft hinüber geschwommen ins Freibad auf Duisburger Seite: „So hatten wir den Eintritt und das Geld für die Rheinfähre gespart.“ Die fuhr damals, betrieben mit Wasserdruck, quer über den Fluss — die Rheinbrücke wurde erst ab 1933 gebaut.

An ein Hochwasser, bei dem die Altstadt überflutet wurde, kann Engels sich nicht erinnern: „Das ging höchstens bis zur Kante.“ Er weiß noch, wie früher das Rheintor verschlossen wurde: „Im Alten Rathaus lagen Holzbalken, die mit Sand und Lehm abgedichtet wurden. Da kam kein Tropfen Wasser durch.“

Vorbei an der Stadtmauer, Rheinhorst und Rheinschloss geht es durch den Wallgarten, einen der wenigen grünen Flecken in diesem Teil Uerdingens. Die Frühlingssonne lockt viele nach draußen, hier und da stehen Gruppen von Menschen. Karl Engels kennt fast jeden mit Namen.

So familiär Uerdingen wirkt und so belebt es an einem normalen Werktag ist: Die goldenen Zeiten scheinen vorbei: „Früher war hier viel mehr Leben, mehr Kneipen und Restaurants“, erzählt Engels. „Wenn es freitags Lohn gab, war überall viel los.“ Sich auf Dauer als eigenständiges Zentrum zu halten, wird schwer, das weiß er: „Früher haben Eigentümer mehr Verantwortung übernommen.“

Dennoch: Der Charme der Straßen rund um den Marktplatz wirkt unzerstörbar, gewachsen über Jahrhunderte. Karl Engels kennt hier jedes Gebäude und jede Hausnummer. Die geraden Zahlen, sagt er, liegen vom Marktplatz gesehen immer rechts: „In Krefeld ist es genau umgekehrt.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort