Künstler Ivo Lucas: Auf dem sinkenden Schiff

Sieben Jahre lang war der Künstler Ivo Lucas schwer krank. Erst Anfang des Jahres fanden Ärzte die Ursache und operierten ihn. Nun blickt er mit neuer Kraft nach vorn.

Krefeld. Damals im Kaiser-Wilhelm-Museum war die Kunst von Ivo Lucas für viele ein Schock. In der Ausstellung „Quer geschnitten“ hatte er 2009 fünf Kästen mit Modellfiguren aufgebaut. Was auf den ersten Blick wie eine Naturidylle wirkte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als blutiges Massaker: Menschen wurden geschlachtet, Leichen wurden zerlegt und in Gruben verscharrt. Für Lucas zeigten die Terror-Tableaus „den schlimmsten Krieg, den man sich vorstellen kann“. Dieser Krieg tobte damals in seinem eigenen Körper.

Als Lucas die Kästen baute, glaubte er, an Lupus Erythematodes zu leiden. Bei dieser seltenen Autoimmunkrankheit attackiert der Körper sich selbst, die Organe entzünden sich. Bei ihm waren es damals Leber, Bauchspeicheldrüse und Speiseröhre. „Die Blutwerte waren katastrophal“, erinnert sich Lucas.

Doch bald kamen Zweifel an der Diagnose auf. „Die Entzündungen verliefen untypisch.“ Zudem entwickelte der Künstler weitere Symptome: Seine Knochen verformten sich, sogar die Wirbelsäule. Lucas musste auf Krücken laufen. Zeitweise konnte er keine Nahrung mehr zu sich nehmen, auf der Haut bildeten sich Schuppenplatten: „Ich kannte mich nur noch krank“, sagt er. Die Odyssee von Arzt zu Arzt führte zum immer gleichen Ergebnis: Die abstrusen Beschwerden mussten psychosomatisch sein, erklärten die Mediziner.

Heute weiß Ivo Lucas: Auch diese Diagnose war falsch. Doch damals, um 2010, stellte sie seine Welt komplett auf den Kopf. Der Künstler, der noch fünf Jahre zuvor als aufstrebendes Talent galt, Stipendien bekam und Gemälde in alle Welt verkaufte, war plötzlich als psychisch krank abgestempelt. „Ich war am Nullpunkt. Da mir keiner helfen konnte, bin ich ab sofort gar nicht mehr zum Arzt gegangen — egal, wie schlecht es mir ging“, erklärt Lucas. Lediglich von anthroposophischen Medizinern ließ er sich behandeln, sie bekämpften die Entzündungen und linderten die Schmerzen.

Er selbst begann, akribisch aufzuschreiben, was er aß und trank, wann er sich schlecht und wann besser fühlte. „Kaffee und Alkohol haben in meinem Körper eingeschlagen wie eine Bombe“, erzählt er. „Auch Sport ging gar nicht.“ Mit einer extrem gesunden Ernährung hielt Lucas sich über Wasser: „Es gab auch Wochen und Monate, in denen es mir einigermaßen gut ging.“

Doch um ihn herum brach alles zusammen: Finanziell wurde es eng, obwohl Galerien immer noch seine Bilder verkauften. Auch sein Sozialleben löste sich langsam auf: „Wenn man nicht funktioniert, wird es schwierig“, sagt Lucas. „Ich habe mich gefühlt wie auf einem sinkenden Schiff, das alle anderen Menschen verlassen.“ Bei seiner Tochter fand er Kraft — und in seinen Bildern, die er auch unter Schmerzen weiter malte.

Vor einem Jahr verschlechterte sich sein Zustand rapide. Er bekam mehr als 40 Grad Fieber und krümmte sich vor Bauchweh. „Kein Schmerzmittel hat mehr geholfen“, erzählt er. Die Entscheidung, seine Krankheit nur mit sich selbst auszumachen, ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten. Ivo Lucas suchte im Krankenhaus Hilfe.

Und endlich, in der Düsseldorfer Uni-Klinik, geriet er an Ärzte, die ihn eingehend untersuchten — und schließlich die Ursache fanden. An seiner Speiseröhre hatte sich eine Art Divertikel gebildet, das laut Lucas inzwischen auf Apfelgröße angeschwollen war. „Vermutlich war das die Spätfolge einer schweren Operation, die ich als 15-Jähriger hatte.“ Dabei sei offenbar ein Muskel an der Speiseröhre angeritzt worden. Über die Jahrzehnte habe die Verletzung sich verschlimmert, die Speiseröhre sich wie eine Blase nach außen gestülpt.

Krebs oder eine Blutvergiftung sind in solchen Fällen oft die Folge. Doch Lucas’ Körper hatte das fremde Ding in seinem Inneren schlicht abgestoßen. „Es war nekrophiles Gewebe“, erklärt Lucas. Doch genau das hatte über Jahre für ständige Entzündungen gesorgt. „Meine Leber und meine Niere haben die ganze Zeit am Limit gearbeitet.“

Im Mai 2013, nach langen Vorbereitungen, wurde Ivo Lucas in Düsseldorf von zwei Spezialisten erstmals operiert. Gleich danach ging es ihm besser, wie er sagt: „Ich konnte es gar nicht fassen, weil ich nicht mehr damit gerechnet hatte, wieder gesund zu werden. Ständig habe ich mein T-Shirt hochgehoben, um zu gucken, dass da wirklich eine Narbe war.“ In der Reha konnte er endlich wieder Sport machen. Er verträgt Koffein. Nur Alkohol rührt er nicht mehr an.

Die sieben Jahre, die Lucas hinter sich hat, haben ihn verändert. „Ich nehme alles intensiver wahr, Geld und Erfolg sind mir unwichtig geworden.“ Oft denkt er an die Menschen, die er täglich ins Krankenhaus hasten sah: „Der Stress und die Lebensplanung standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Bei uns Patienten ging der Blick nur bis zu dem, der gerade vor uns stand.“

Wut auf die Ärzte empfindet Ivo Lucas nicht. „Ich bin einfach froh, dass ich noch eine Chance bekomme“, sagt er. „Das, was ich gelernt habe, zählt mehr, als das, was schlecht war.“ An der Schulmedizin kritisiert er nur, dass viele Ärzte ihren Patienten nicht richtig zuhören und nicht genug nachfragen. „Wenn die Instrumente nichts zeigen, glaubt man dem Patienten nicht.“

Dass die Erfahrungen dieser Jahre seine Kunst verändern werden, da ist sich Lucas ganz sicher. „Nur wie schnell und in welcher Form, das weiß ich noch nicht.“ Zurzeit grübelt er auf dem alten roten Stuhl in seinem Atelier an der Marktstraße darüber nach, was Malerei überhaupt leisten kann. „Und was ich ihr zumuten will.“ Im Januar endet seine Krankschreibung, dann bereitet er eine Einzelausstellung im Kunstmuseum Ahlen vor. Eröffnung ist im August.

Ivo Lucas wirkt heute entspannt und optimistisch, nicht mehr wie der Getriebene, der den Krieg in seinem Körper mit Hilfe seiner Kunst verstehen will. Auch die Vergangenheit sieht er in anderem Licht, jetzt, wo er den Grund seines langen Leidens kennt. „Ich war nicht krank“, sagt er. „Ich war nur verletzt.“

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