Sauerkraut machen — eines der letzten großen Abenteuer

WZ-Autor Matthias Rech berichtet vom Mietacker in Niederkassel.

Düsseldorf. Düsseldorf ist eine große, bunte Stadt. Na gut, es ist jetzt nicht gerade New York, Rio, Tokio und auch nicht Berlin, aber trotzdem kann man hier einiges anstellen. Lustige, ausgefallene, bescheuerte, gefährliche oder unmögliche Sachen.

Man kann zum Beispiel an einem Samstagabend im Sommer versuchen, ein Bierchen in der Altstadt zu trinken, ohne einen Junggesellen-Abschied zu sehen. Man kann auch bei einem Nachmittagsbummel über die Kö einen Kugelschreiber für den Preis eines Mittelklassewagens kaufen.

Ganz Verwegene könnten auch probieren, mit der Rheinbahn unter der Woche nach Mitternacht noch von A nach B zu kommen. Oder man bewirtschaftet ein kleines Feld mitten in der Stadt am Rhein und stürzt sich in eines der letzten großen Abenteuer unserer Zeit: Sauerkraut selber machen.

Ich habe noch nie einen Menschen beim Sauerkraut machen gesehen. Vielleicht hat meine Großmutter das früher mal gemacht, als die Deutschen noch die „Krauts“ waren. Aber gesprochen hat sie nie davon. Vielleicht wollte sie ihre Enkel nicht mit dem Thrill anstecken — von wegen Jugendschutz und so. Tabuthema Sauerkraut.

So mussten wir uns das Wissen um das sagenumwobene, vermeintliche Lieblingsgericht komplett neu aneignen. Sauerkraut ist Powerkraut. Das wussten schon die alten Römer, Chinesen und Griechen . . . alle, die eben damals schon Ahnung hatten. Es ist unheimlich vitaminreich, vor allem an Vitamin C, wirkt infektionshemmend, und ist, da beinahe fettfrei, ideal für figurbetontes Essen.

Allerdings nur, wenn man Haxen, Würstchen, Bratkartoffeln und Co. als Schmankerl zum Kraut weglässt. Außerdem ist der Verzehr von Sauerkraut sehr verdauungsfördernd und regt zu sportlichen Höchstleistungen an: Nach dem Verzehr des vergorenen Kohls hat schon so mancher einen rekordverdächtigen Sprint in die Sanitärbereiche hingelegt. Ein Ernährungsberater schreibt im Internet gar vom Sauerkraut als „Schornsteinfeger des Körpers“. Doch darüber hat meine Oma erst recht nicht gesprochen.

Das Kraut-Mysterium hatte mich in seinen Bann gezogen und ließ mich nicht mehr los. Schon verdaut oder noch im Topf, Sauerkraut scheint untrennbar mit dem Abenteuer verbunden zu sein. Kriege, Entdeckungen, Streiche — nichts ging ohne das Zauberkraut. Angeblich sollen sich die Chinesen schon beim Bau der Großen Mauer damit gestärkt haben. Es begleitete den legendären englischen Seefahrer James Cook im 18. Jahrhundert fässerweise auf dessen Entdeckungsreisen im Pazifik.

Dank seines Vitamingehalts und der langen Haltbarkeit war es das ideale Mittel gegen Skorbut. Tatsächlich hatten die deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg Sauerkraut in Dosen dabei. Und Wilhelm Buschs Max und Moritz hätten der Witwe Bolte nie die Hähnchen aus der Pfanne angeln können, wäre die nicht in den Keller gegangen, um Sauerkraut zu naschen.

Die erste Hürde, die wir auf unserem Weg zum Sauerkraut zu nehmen hatten, war die Beschaffung der richtigen Ausrüstung. Nach wochenlanger Suche und erfolglosen Befragungen aller älteren Menschen im Bekanntenkreis, entdeckten wir ein Gartencenter, in dem es einen Gärtopf zu kaufen gab. Es konnte losgehen.

Wir wählten die beiden schönsten Weißkohlköpfe auf der Scholle in Niederkassel aus und führten sie ihrer höheren Bestimmung zu. Dann wurde es brutal. Denn Kohl ist ein wehrhaftes Gemüse. Ihn kleinzukriegen ist nicht einfach. Er fordert Krautzoll. Bei mir war es eine Fingerkuppe, die um ein Haar dem Krauthobel zum Opfer gefallen wäre.

Dann begann eine stumpfe Stampferei. Ich prügelte auf die Weißkohlstreifen ein, bis das Gemüse in seinen salzigen Tränen unterging. Am nächsten Tag fühlten sich meine Unterarme an wie die von Popeye nach zehn Dosen Spinat. Doch da wusste ich noch nicht, dass auf den körperlichen Schmerz psychische Folter folgen sollte.

Einmal schreckte ich nachts aus dem Schlaf hoch, schlich mich in die Küche und hatte auf dem Handy schon die 110 gewählt, als ich feststellte, dass ich nicht Einbrecher, sondern einen Pups der Milchsäurebakterien im Gärtopf gehört hatte.

Sechs Wochen musste ich den Lactobazillen dann mein Kraut im Keller überlassen, ohne zu wissen, ob sie es gut mit ihm meinten. Denn mit den Milchsäurebakterien ist es wie mit den Menschen. Es gibt gute und böse. Die einen machen dich gesund — manche leben sogar in dir, die anderen, die Streptokokken, verursachen Lungenentzündungen oder Karies. Das Warten ist das Schlimmste. Stellen Sie sich mal vor, Sie müssten als Kind acht Wochen die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum betrachten, ohne eines auspacken zu dürfen.

Als es endlich soweit war, hob ich mit 180er Puls den Deckel des Gärtopfes an. Und was soll ich sagen: Der erste Teller mit Kartoffelpüree und Kassler ließ mich alle Strapazen dieses Abenteuers vergessen.

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