„Es herrschte totales Chaos“

Der Pfingstangriff 1943 war der erste große Schlag gegen Düsseldorf im Zweiten Weltkrieg. Die WZ erinnert in einer Serie an den Tag.

Immer, wenn es hinabgeht in den Keller, wird nicht mehr viel geredet, erinnert sich Ernst F. Wolter. Die Angst überwiegt. So ist es auch in der Nacht zum 12. Juni 1943. Es ist die Nacht des Pfingstangriffs, des ersten großen Bombenangriffs auf Düsseldorf im Zweiten Weltkrieg. Rund 80 Menschen aus der Nachbarschaft suchen gegen 1.15 Uhr an der Graf-Adolf-Straße Schutz unter der Erde — vor den Bomben und Minen, die die britischen Flugzeuge tonnenweise abwerfen.

Der damals achtjährige Ernst war wie üblich angezogen ins Bett gegangen, um schnell aus der Wohnung zu kommen, wenn der Fliegeralarm die Nachtruhe jäh unterbricht. An den Pfingsttagen haben die Hausfrauen noch versucht, ein bisschen Normalität in den von Schicksalsschlägen geprägten Alltag zu bringen. Für das Wochenende haben sie die Wohnung aufgeräumt. So auch Ernsts Mutter. Aber der Krieg kennt keinen Feiertag.

Die Luft im Keller ist auch in dieser Nacht stickig. Es gibt keine Lüftung, die Luken sind zugemauert aus Angst vor Gasangriffen. Per Drahtfunk wird der „Anflug von anglo-amerikanischen Terrorbombern“ gemeldet. Warten. „Erst hat es sich so angehört, als wären die Bomber vorbeigeflogen in Richtung Münster. Aber dann kamen sie zurück“, sagt Wolter. Eine alte Frau scherzt noch sarkastisch: „Wo bleiben die denn? Denen wird doch wohl nichts passiert sein?“, dann geht der Beschuss los.

Erst sind die hellen Geräusche der Vierlingsflak im Turm des Hauptbahnhofs und die dumpfen Stöße der Geschütze am Stadtrand zu hören. Dann kommen die Einschläge näher. Jedes Mal zuckt Ernst zusammen. Mit jedem Einschlag schreien die Menschen im Keller auf. Das Licht flackert, geht aus, die Notbeleuchtung setzt ein. Fast anderthalb Stunden dauert die Attacke. „Die Wände haben gezittert. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor“, sagt Ernst Wolter. Wenn für kurze Zeit Stille herrscht, denkt er, es ist vorbei. Doch dann folgen die nächsten krachenden Einschläge.

Überhaupt beeinflussen die Geräusche und Gerüche des Krieges Ernst Wolters Wahrnehmung bis heute. Fliegen Flugzeuge über die Stadt, schaut er zweimal hin. Wenn er Feuerwehr-Sirenen hört, ist die Erinnerung sofort da. Noch schlimmer ist Brandgeruch. Dann denkt Wolter an den Moment, als der Pfingstangriff vorbei ist und er mit seiner Mutter an die Oberfläche zurückkehrt: „Es herrschte totales Chaos. Es stank nach verbrannten Menschen, nach Phosphor und Schwefel“, sagt der heute 78-Jährige. Vom Haus steht nur noch die untere Etage, in der die Wolters wohnen. Das Sofa hat einen Brandfleck.

Schulfreund Karl-Heinz aus der Pionierstraße sieht Ernst Wolter nicht wieder. „Wir haben vorher noch in Trümmern Feuerwehr gespielt. Karl-Heinz rief: ’Kommen Sie schnell, hier ist eine Bombe passiert!’ Den Satz werde ich nicht vergessen.“ Wenige Tage nach dem Pfingstangriff wird Wolter mit der Kinderlandverschickung nach Oberösterreich gebracht. Dort erlebt er den Einmarsch der Amerikaner.

Vor zehn Jahren beginnt mit dem 60. Jahrestag der Angriffe für den langjährigen Pressesprecher des Comitees Düsseldorfer Carneval das aktive Erinnern — im Zuge einer WZ-Serie über den Bombenkrieg. Er beginnt, seine Erlebnisse zu erzählen. Das hilft dem gebürtigen Düsseldorfer dabei, die Geschehnisse zu verarbeiten. Und er hat ein weiteres Ziel: „Ich möchte jungen Menschen mit auf den Weg geben, dass sie mit der Freiheit, die sie heute haben, etwas Sinnvolles anstellen können.“

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