Home-Office-Kolumne Ein tränenreicher Abschied

Düsseldorf · Nach zwölf Wochen sind die Kinder zurück im Kindergarten – und die Autorin wieder in der Redaktion.

 Ines Arnold Kolumne Home Office Corona

Ines Arnold Kolumne Home Office Corona

Foto: arn

Der Anfang eines Textes setzt den Tonfall und gibt ein Versprechen, so sagt es das journalistische Regelwerk. Von der Qualität des ersten Satzes hängt ab, ob ein Text überhaupt gelesen wird. Spätestens an dieser Stelle müsste ich wohl stutzig werden und mir einen besseren Einstieg überlegen. Natürlich möchte ich, dass gerade diese dreizehnte und damit letzte Kolumne gelesen wird. Aber genau das werde ich nicht tun. Ich werde sie so schreiben, wie ich es gewöhnt bin. Authentisch. Und deshalb gebe ich auch jetzt offen zu, dass zwischen dem ersten Satz und diesem bestimmt fünf Minuten liegen. Wahrscheinlich doch eher zehn. Ich habe mehrere Minuten unverhohlen auf eine Nikolausfigur gestarrt, die seit mindestens zwei Jahren auf meinem Schreibtisch einstaubt und noch von einer Kollegin stammt, die Nippes deutlich zugewandter war als ich. Ich wurde von Kollegen unterbrochen, die sich nach meinen Kindern erkundigten, nach den Nieren meines Mannes. Die wissen wollten, welche Themen von mir diese Woche einzuplanen sind.

Meine Kollegin hat mir Tipps gegen meine sichtlich geschwollenen Augen gegeben – die Haut rebelliert gegen das ungewohnte Make-Up. Das Telefon meines Kollegen hat seit meinem unattraktiven Einleitungssatz vier Mal geklingelt. Ich nahm mir die Zeit mitzuzählen. Einmal muss es, seinem Säuseln nach zu urteilen, eine Frau gewesen sein. Von seinem Gegenüber ist heute nichts außer dem Klackern der Tastatur und einem markanten Plopp zu hören, wenn er auf seinen Thermobecher drückt, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

Home-Office-Kolumne: Ein tränenreicher Abschied
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Ich bin zurück in der Redaktion. Nach drei Monaten im Home-Office sitze ich wieder an meinem Schreibtisch, diesem verstörenden Nikolaus mit riesigen, aufgeklebten Pupillen gegenüber. Nicht nur er lenkt mich gerade ab. Die ungewohnte Geräuschkulisse, erwachsenen Menschen um mich herum und diese Entfernung zum Kühlschrank machen mich gerade ganz nervös. Keine zwei Stunden ist es her, dass mein Mann die drei Kinder in den Kindergarten brachte. Erst die älteren, mittlerweile routinierten Mädchen, dann zum ersten Mal auch den Jüngsten den Erzieherinnen übergab. Über ein kompliziertes, aber gut markiertes Wegesystem, das sich der Kindergarten einfallen lassen musste, damit sich die vielen Eltern nicht in die Quere kommen. Ich dachte, es wird einfacher, wenn mein Mann das übernimmt. Dass es vielleicht keine Tränen geben wird, weil er seine Furcht vor einem tränenreichen Abschied besser überspielen könne. Aber natürlich gab es welche. Inklusive Schmollmund, ausgebreiteten Armen und Rufen nach Papa. Aua.

Nun leide ich still vor mich hin. Ich fühle mich ein bisschen wie mit 21, nach meinem ersten Beziehungsende, in Gedanken an die ausschließlich guten Seiten der ersten Jugendliebe. Wie ich hier sitze und darüber nachdenke, was mein kleiner Sohn im Kindergarten wohl gerade macht, verdränge ich wie damals, wie anstrengend die letzte Zeit war. Ich sehe nur diesen kleinen Kerl, mit dem ich die vergangenen Wochen ununterbrochen zusammen war. Und damit meine ich: ununterbrochen. War er wach, war ich es schon lange. Schlief er ein, war ich noch lange wach. Und wachte er mal wieder mitten in der Nacht auf, war ich es wieder. Ich denke an diesen süßen Blondschopf, für den seine Schwester größere Helden als Polizisten sind, der ihnen im Badeanzug und mit Ritterhelm Ballett-Choreografien um den Esstisch herum nachtanzt, ihnen ohne nachzudenken auf Mauervorsprünge, Äste und Leitern folgt und der mehrmals am Tag nach dem Osterhasen ruft, er solle demnächst doch mal ein Skateboard vorbeibringen, denn er sei jetzt ein großer Junge. Auch wenn er immer noch diese Windeln trägt.

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Jetzt hier am Schreibtisch sitzend, stelle ich mir all die Fragen, die ich in so vielen Kommentaren in sozialen Medien, aber auch in Kolumnen oder Gastbeiträgen während der kitafreien Zeit gelesen habe. Warum fiel es uns so schwer, diese Zeit ohne Gemecker zu überstehen? Sollten wir nicht in der Lage sein, unsere Kinder, die wir in die Welt gesetzt haben, angemessen zu betreuen, auch wenn sich die Rahmenbedingungen ändern? Warum gewannen wir den Eindruck, dass unsere Kinder darunter leiden, nur von uns Eltern betreut zu werden? Und die wichtigste Frage: Haben meine Texte in den vergangenen Wochen die Situation wirklich angemessen beschrieben?

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Und wieder denke ich an mich in meinen Zwanzigern und an meine Mutter, die mir bisher durch jede Krise half. Sie war es, die mir damals schon den Kopf wusch und mich daran erinnerte, mich niemals an Standards zu messen, sondern auf mich und mein Gefühl zu vertrauen. Auch in den vergangenen drei Monaten haben wir oft telefoniert. Sie brachte mich zum Lachen, wenn ich ihr abends müde bei einem Glas Wein mit einer weißen Bügelperle in der Hand erzählte, dass ich den halben Tag im Krankenhaus gesessen hatte, um eine kindliche Nase nach einer solchen absuchen zu lassen. Sie schimpfte mit mir über den Fahrradfahrer, der mir bei einem Ausflug vorwarf, „die Kinder nicht im Griff zu haben“. Sie baute mich auf, als ich ihr am Muttertag gratulierte, mir aber anzuhören war, dass ich als Mutter an meine Grenzen stoße. Sie ist es auch, die mir die Sicherheit gibt, dass alles, was ich in den vergangenen zwölf Wochen geschrieben habe, okay war. Weil ich nichts beschönigte und nichts übertrieb. Sondern es so schrieb, wie ich es Woche für Woche fühlte. Die Texte waren authentisch. So wie dieser letzte Satz: Danke fürs Lesen.

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