Vom Straßenreiniger zum Turmbläser: Spaziergang durch Celle

Celle (dpa/tmn) - Zweimal täglich steigt in Celle der Turmbläser auf die Stadtkirche. Touristen lauschen andächtig. Doch in der Stadt an der Lüneburger Heide gibt es noch mehr zu entdecken: zum Beispiel adlige Gruften und ein patentiertes 24-Stunden-Museum.

Er sei unübersehbar, hat Helmut Lorchheim gesagt. Und tatsächlich: In seinem knallroten Schutzanzug ist er vor dem Glockenturm nicht zu verfehlen. „Nein“, sagt der Endfünfziger und lacht, „den brauche ich nicht fürs Blasen.“ Aber er komme direkt von seinem Hauptjob bei der Celler Straßenreinigung. Zweimal am Tag - um 9.30 Uhr und um 17.30 Uhr - kraxelt er die 235 Stufen des Turms der Stadtkirche St. Marien hinauf. Flink steigt er die steile Treppe empor.

Oben holt Lorchheim Trompete und Noten aus dem Schränkchen und bläst den Choral „Der Herr segne dich“ in alle vier Himmelsrichtungen. Meist sind es Kirchenlieder, die der Pfarrer vorgibt, aber etwas Freiheit bei der Wahl hat er schon. Heute ist schönes Wetter, und unten auf dem Platz lauscht eine Reisegruppe seinem Spiel und spendet Applaus. Das hat Lorchheim gern, er lächelt glücklich. Lohn bekommt er nicht, nur eine Aufwandsentschädigung. Dafür muss er auch ohne viele Zuhörer, bei Wind und Wetter, jahrein, jahraus, vom 74 Meter hohen Turm der Celler Stadtkirche aus blasen.

Fast ein halbes Jahrhundert spielt er schon Trompete. Auf den Job des Turmbläsers aufmerksam gemacht hatte ihn Mitte der 1980er Jahre sein Schwiegervater, der die Anzeige in der Tageszeitung entdeckte. Heute geht der Blick weit hinaus über die Fachwerkstadt und das Schloss zu seinen Füßen, die nahe Heide und die Ackerflächen, die die Stadt umgeben.

Unten macht derweil Küster Ralf Pfeiffer die Kirche für die Besucher bereit. Sein größter Schatz liegt unter seinen Füßen: die Welfengruft. Stolz öffnet Pfeiffer die im Boden eingelassene Holztür im Chor und steigt hinab. Als die Welfen, denen Ernst August von Hannover vorsteht, in Celle Familientreffen abhielten, war er mit ihnen in der Gruft bei den Sarkophagen ihrer Vorfahren. Auch Caroline Mathilde liegt dort. Die Schwester des englischen Königs Georg III. wurde als Kind mit ihrem Cousin, dem geisteskranken dänischen König Christian VII. vermählt.

Eine Liaison mit dem Aufklärer Struensee, die für das Kino verfilmt wurde, endete für diesen tödlich, für Caroline Mathilde mit der Verbannung nach Celle, wo sie 1775 mit nur 24 Jahren starb. Die Kirche liegt am Rande der pittoresken Altstadt mit ihren gut 400 Fachwerkhäusern, die den Krieg unbeschadet überstanden und in den vergangenen Jahrzehnten kunstvoll restauriert wurden.

Die jahrhundertealten Sinnsprüche und der Figurenschmuck an den Fassaden der Altstadthäuser lassen Besucher oft schmunzeln. Geschmackvolle Geschäfte, Gaststätten und Bars laden Flaneure zur Einkehr ein. Dass alte Fachwerkhäuser nicht gerade pflegeleicht sind, verrät Frank Simon bei einem Rundgang.

Der Architekt hat sich auf Altbausanierung spezialisiert und einige Fachwerkhäuser so umgebaut, dass Fassade und schöne Baudetails erhalten blieben, aber Böden und Decken den heutigen Anforderungen genügen. Der historische Marstall gegenüber des Schlosses kann so als Modegeschäft neu genutzt werden. Bei Mietwohnungen ist Investoren so viel Aufwand meist zu hoch. „Rund um den Hauptplatz Großer Plan wohnen gerade noch drei Familien“, sagt Simon bedauernd.

Sein Namensvetter Robert Simon hat mit der Historie nicht viel am Hut. Der Galerist aus Hannover hat sich seinen Traum vom eigenen Museum für seine Sammlung verwirklicht. Wie ein Fremdkörper steht der gläserne Kubus gegenüber des Welfenschlosses. Als 24-Stunden-Museum versteht der freundliche PR-Mann mit der auffälligen Krawatte und dem rosa Sakko das von ihm geleitete Haus. Und entsprechend hat er es sich auch patentieren lassen.

Tagsüber kann der Besucher im Inneren neben zeitgenössischen Tafelbildern zahlreiche Licht- und Objektkunstwerke besichtigen, wie die skurrilen Setzkästen von Peter Basseler. Abends und nachts strahlt der ganze Bau in wechselnden Farben, ein Diodenfries in der engen Gasse zur Altstadt nimmt durch Blinken und leise Geräusche Kontakt zu den nächtlichen Passanten auf - auch wenn es nur eine Katze ist.

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