Wo Hesse sein neues Leben begann

Am 9. August jährt sich der Todestag von Hermann Hesse zum 50. Mal. Eine Spurensuche im Schweizer Kanton.

Die Sonne taucht den Innenhof in goldenes Licht. Tiefgrün leuchten die Fensterläden der Casa Camuzzi auf der mediterranen Häuserfront. Am Fenster sitzt eine alte Frau. Die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, blickt sie in den Hof, betrachtet gedankenverloren die beiden Platanen und den blühenden Garten.

Plötzlich betritt ein Fremder den Hof. Koffer und Regenschirm hält er in der Hand, auf der Nase trägt er eine markante runde Brille. „Ich bin ein heruntergekommener Literat und suche eine billige Bleibe“, erklärt er der Frau.

Und sie, scheinbar gar nicht verwundert, bietet ihm eine Wohnung über der ihren an, wenn der Deutsche — niemand anders als Hermann Hesse — ihren Töchtern seine Sprache beibringe.

93 Jahre ist diese Geschichte alt. Eine Geschichte, die man sich in Montagnola bei Lugano im Schweizer Kanton Tessin noch heute erzählt. Mehr als 40 Jahre hat Hermann Hesse dort gelebt. Im August jährt sich der Todestag des Schriftstellers und Nobelpreisträgers zum 50. Mal. Ein Grund, sich näher mit Hesse und der Gegend zu beschäftigen, die er so liebte.

Hermann Hesse war verzweifelt. Er hatte seine gemütskranke Frau verlassen und die Kinder in die Obhut von Freunden gegeben, als er nach Montagnola kam. Im Alter von 42 Jahren wollte er ein neues Leben beginnen — im Tessin, mit dem mediterranen Charme der Landschaft und dem milden Klima. Er blühte geradezu auf, heißt es in Erzählungen.

In der Casa Camuzzi entstand Weltliteratur. Mit Blick auf den Luganer See schrieb Hermann Hesse „Siddhartha“, „Der Steppenwolf“ und „Narziss und Goldmund“. Sein Leben hat Spuren hinterlassen. Vor allem in Montagnola, oberhalb von Lugano.

Die alte Schreibmaschine steht auf dem massiven Eichenschreibtisch, als hätte der Schriftsteller den Raum gerade erst verlassen. Ein Blatt Papier ist noch eingespannt, einige Zeilen getippt, daneben liegen ein Stapel Bücher und einige handgeschriebene Briefe. In der Ecke steht ein Schrank mit Hesses Werken in altem Einband. Ein Bild hoch oben an der Wand zeigt ihn auf einem Hocker sitzend mitten im Grünen, den Malblock auf den Knien.

Seit 1997 können Besucher den einstigen Arbeitsplatz des deutschen Schriftstellers aus unmittelbarer Nähe betrachten. Nicht an seinem einstigen Wirkungsort, der heute eine Eigentumswohnung ist, aber im Gebäude gleich nebenan.

15 000 Menschen besuchen das Museo Hermann Hesse pro Jahr. Dort kommt der Besucher dem Schriftsteller nahe. Schirm und Tasche, die typische Brille, aber auch die Original-Malfarben des gebürtigen Calwers sind in Vitrinen ausgestellt, an der Wand die Gemälde.

Hesse wanderte gern, hielt die malerische Landschaft in Bildern fest, ließ seine Romane zwischen Zypressen und Magnolien spielen. Oft ging er über schmale Wege bis zum Fuß des Monte San Salvatore, dem „steilen Bergwald“ hoch über dem Luganer See. Hier, im Grotto, traf der Schriftsteller Freunde auf einen Wein: Oben die Gaststube mit groben Holzbänken, unten eine Art natürlicher Kühlschrank, in dem selbst im Sommer kühle Temperaturen herrschen.

Das Grotto steht noch immer, hat nichts verloren von seinem liebevollen Charme. Noch immer lagert Wein im Keller — und oben in dem kleinen Schankraum verspeisen Gäste die Spezialität vom „Grotto Morchino“, wie es heute heißt: Rotolo di Castagne, eine aus Schokolade, Mandeln und Kastanien zur Rolle geformten Nachspeise. Kastanien, wenn auch nicht in dieser exklusiven Zubereitung, waren Hesses Hauptnahrungsmittel. Der Schriftsteller war arm — und Kastanien gab es an jeder Ecke.

Blank geputzte Marmortafeln glänzen in der Sonne. Rosa Blüten bilden einen zarten Kontrast. Es ist auch diese Spur, die Hermann Hesse bei Lugano hinterlassen hat. Sein Grab ist schlicht im Vergleich zu den anderen, mit Protz und Marmor verzierten Gräbern.

Es liegt an dem Weg, den er viele Jahre zuvor hinaufgewandert war — auf der Suche nach einer Bleibe. Ein Stein zum Verweilen, eine Vogeltränke und ein Grabstein mit Inschrift, darauf nicht mehr als Name, Geburts- und Sterbedatum. Ein Grab, schlicht wie Hesses Leben. Das hatte er sich so gewünscht.

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