Venedig ist im Herbst und Winter voller Geheimnisse und Zauber: Nie wird das Morbide deutlicher – und nie die Magie Venedig im Nebel

Vor zwei Stunden ist es Nacht geworden über Venedig. Und jetzt hat irgendwer in Windeseile einen Vorhang vor die Palazzi an den Kanälen gezogen, vor die kleinen Handwerker-Häuser im Canaregio-Viertel, die Kirchen, die Gondeln an den Kais.

 Wenn der Nebel aufzieht: Aus Richtung Adria drückt er in die Lagune und wird die Stadt verschlucken – immer wieder während der Wintermonate.

Wenn der Nebel aufzieht: Aus Richtung Adria drückt er in die Lagune und wird die Stadt verschlucken – immer wieder während der Wintermonate.

Foto: Helge Sobik

Durch den Dunst glimmen nur noch matt die Positionslichter eines Linienschiffes auf dem Canal Grande. Immer wieder lässt der Kapitän das Nebelhorn tuten, während das Boot fast unsichtbar bleibt und bald ganz verschwindet. Es schrumpft zu einem leiser werdenden Motorengeräusch ohne Kontur. Irgendwo fallen derweil ein paar Strophen Musik aus einem offenen Fenster. Der Wind greift sich die Töne, verteilt sie in der Nachbarschaft, wirft sie über eine dunkle Brücke auf die andere Seite eines Kanals.

Und irgendwie ist es, als fiele immer mehr von diesem grauen, fast undurchsichtig gewebten Vorhangs vom Himmel. Längst müsste er sich auf dem Pflaster der Gassen türmen, und immer noch senkt sich unaufhörlich mehr davon herab. Noch Stunden wird es so gehen, diese ganze Nacht hindurch.

Die Kapitäne, die Gondoliere, die paar Menschen auf den Straßen, die anderen zuhause: In Venedig kennen sie das, es ganz normal in Herbst und Winter. Immer wieder holt sich der Nebel, der meist zuerst draußen auf See aufzieht, die Stelzenstadt in der Lagune an der Adria. Geheimnisvoll ist das, ein bisschen gruselig sogar. Und Zauber hat es: Es ist die schönste Zeit in Venedig, weil all die Effekte so gut zusammenpassen, die Mischung aus Lichtern und Schleier, die Melancholie zur Bausubstanz.

Der Nebel verbreitet eine
ganz besondere Stimmung

Was das Ereignis so besonders macht: Der Zeitpunkt lässt sich nicht vorherbestimmen, niemand garantiert eine Wetterlage. Für die, die den Nebel während ihres Aufenthalts erleben, ist er Belohnung. Er kaschiert viele Wunden dieser Stadt und scheint sogar die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben, macht Antennen und Reklamen unsichtbar.

Eben noch waren in der Abenddämmerung die letzten Gondeln mit Touristen auf dem Canal Grande unterwegs, jetzt liegen sie fest vertäut an ihren Stegen und tragen blaue Plastikkapuzen als Schutz vor Feuchtigkeit und Regen und allem, was noch kommen mag. Die Gondoliere, die den ganzen Tag in ihren klischeehaften Streifen-Pullis mit übergeworfenen dunkelblauen Daunenjacken an ihrer Straßenecke gewartet und jeden fragend mit „Gondola? Gondola?“ angesprochen hatten, haben Feierabend gemacht. Gegen Dämmerung haben sie nichts, gegen Romantik schon gar nichts – aber der Nebel ist nicht ihr Geschäft. Da lohnt es sich nicht, länger auf Kundschaft zu warten. Und da wäre es auch zu gefährlich, sich auf die breiteren Kanäle hinauszuwagen, auf denen noch immer Motorboote unterwegs sind.

Wer derweil zum Essen gegangen ist, sitzt drinnen in den beleuchteten und geheizten Lokalen, bestellt Pizza oder Risotto, Pasta mit Filetspitzen oder gegrillten Fisch mit Blattspinat und Walnüssen. Gestern noch war draußen fürs Abendessen eingedeckt, über den Schoß gab es auf Wunsch eine Wolldecke. Diesen Abend will das niemand. Trotzdem ist nicht viel los in den Restaurants. Hotelgäste sind in ihren Quartieren geblieben und essen dort.

Wer eine der vielen  Ferienwohnungen gemietet hat, hat am Nachmittag schnell eingekauft und kocht nun selbst im Quartier auf Zeit, hört Musik, knipst ab und zu alle Lichter aus, um aus dem Fenster hinaus in Nacht und Nebel zu schauen, diese Stimmung aufzusaugen und sieht doch nur die Straßenlaterne vor der Haustür, die halb von Dunst und Schwaden verschluckt ist. Schritte hallen durch die Gasse, erst Stöckelschuhe in kurzen Abständen, dann der harte Klang glatter Ledersohlen. Irgendwo fällt eine Tür ins Schloss, von anderswo hallt der Neun-Uhr-Glockenschlag einer Kirche.

Den Zauber gibt es nur
in der Altstadt in der Lagune

Nur etwa 58 000 Einwohner leben heute im historischen Zentrum, noch vor wenigen Jahrzehnten waren es dreimal so viele. Sie haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt, sind oft einfach in die angrenzende Stadt Mestre aufs Festland umgezogen. Das Leben ist dort bequemer, sie können mit dem Auto vor der Haustür parken, müssen Pasta-Packungen und Getränkekisten nicht hunderte Meter weit schleppen. Neblig kann es auch dort mal sein. Nur der Zauber fehlt, der ist der Altstadt in der Lagune vorbehalten.

Wer spätabends noch durch diesen Dunst spaziert, setzt mancherorts die Schritte wie ins Nichts, kommt an dunkleren Ecken nur langsam voraus und muss immer wieder herausfinden, ob er den Fuß wieder aufs Pflaster platziert oder schon daneben ins Wasser. Kommt ein Spaziergänger mit Hund entgegen, kann er anhand des Basses oder Baritons beim Wuffen raten, was für ein Exemplar sich da gleich in der Nähe befindet. Und lichtete sich jetzt der Schleier plötzlich um einen Menschen mit dunklem Umhang und venezianischer Maske: alles würde zusammenpassen.

Am nächsten Morgen scheint die Kirchenglocke anders zu klingen: irgendwie leichter, heller, beschwingter. Der Nebel ist weg. Er war das Phänomen eines Abends, einer Nacht, dann ist der Vorhang verschwunden, die Sonne wieder da. Oder wenigstens eine Wolkendecke. Die Kirche von nebenan spiegelt sich wieder in der Pfütze vor der Haustür, und zwei Straßenecken weiter liegen die Gondeln abfahrbereit ohne die blauen Kapuzen vom Vorabend am Kai. Irgendwer ruf „Gondola? Gondola?“, jemand anders antwortet „si“ und „prego“ und versucht noch kurz, am Preis etwas zu machen. Der Alltag hat Venedig wieder.

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