Tübingen: Genie und Wahnsinn am Neckarufer

Auf den Spuren des berühmtesten Sohns der Stadt: Dichter Friedrich Hölderlin.

Düsseldorf. Ernst Bloch war dort, um in der Buchhandlung Gastl zu schmökern. Umgeben von Weltliteratur saß er im bequemen Sessel und philosophierte. Für Hermann Hesse war seine Zeit in der Stadt als Buchhändlerlehrling ein Sprungbrett auf dem Weg zur Schriftstellerei.

Als Goethe vor 200 Jahren auf der Durchreise in die Schweiz in Tübingen halt machte, traf er dort mit Friedrich Hölderlin den berühmtesten Sohn der Stadt und einen Feingeist, der gleichermaßen die tragische Seite des Städtchens am Neckar verkörpert.

Goethe und Weimar werden wohl ewig als Erfolgsgeschichte verbunden bleiben - was man von Tübingen und Hölderlin nicht unbedingt behaupten kann. War doch die "Stadt des deutschen Idealismus" eher der Ort, in dem sich der geistig umnachtete Dichter aus der Welt zurückzog. Sein Wahnsinn ist Legende und der Hölderlinturm das Obdach eines Rastlosen, der im Kampf mit den inneren Dämonen Literaturgeschichte schrieb.

Und dennoch: Tübingen ist die Stadt, die bis heute den Geist deutscher Dichter und Denker atmet. "So übte der Minnesänger Heinrich von Rugge im Schloss seine Kunst aus, Humanisten und Aufklärer wie Philipp Melanchton oder Johannes Reuchlin lebten und lehrten in der Burse, im Stift studierte Eduard Mörike", schreibt Andreas Rummler in seinen "Tübinger Dichterspaziergängen".

Wer sich entlang der malerischen Fassaden umschaut, bekommt das Gefühl, die Altstadt sei so gebaut worden, um Jahrhunderte später mehr als zwei Millionen Touristen anzulocken. Neckarbrücke, Schloss und Dichterturm: Die Sehenswürdigkeiten liegen nah beieinander. Vom Zwingel, dem kleinen Pfad entlang des Neckarufers aus, können Besucher einen Blick aufs stille Flüsschen werfen.

Dort liegen sie in der Nähe des Hölderlinturms am Ufer: die Stocherkähne. Wer sich zu einem Ausflug mit den Wasserfahrzeugen altertümlicher Bauart entschließt, stochert sich durchs stille Gewässer. Oder besser: Er lässt sich stochern, denn die flachen Boote ohne Kiel sind nicht leicht zu handhaben.

"Die Stocherkähne gehören zu Tübingen wie die Gondeln zu Veneding. Man hat vom Wasser aus einen wunderbaren Blick auf die Neckarfront, die dass häufigste Fotomotiv für Touristen ist ", sagt Barbara Honner vom Tübinger Verkehrsverein.

Ob Hölderlin jemals zu einer Kahnfahrt aufbrach, ist nicht überliefert. Mittlerweile lassen sie sich beim Verkehrsverein buchen. Und wer möchte, kann sogar ein "Stocherkahndiplom" erwerben, um es danach selbst zu versuchen. Dabei sollte man aber im wahrsten Sinne des Wortes bei der Stange bleiben, denn wer sie loslässt, muss ihr ins Wasser hinterher springen.

Turm, Klinikum und evangelisches Stift, in dem er hoffnungsfroh sein Studium begonnen hatte, um dann doch kein Pfarrer zu werden: An diesen Schicksalsorten entschied sich Hölderlins Leben. Wer heute durch Tübingen streift, kann den Spuren des Dichters folgen.

"Das Hölderlinmuseum im Turm ist etwas für Liebhaber. Man kann nicht seinen letzten Pinselstrich und das letzte Paar Schuhe bewundern, aber dafür bekommt man einen Eindruck vom Lebensumfeld des größten Sohns unserer Stadt", glaubt Barbara Honner.

Jahrzehntelang wurden die Besucher des Turms in die Irre geführt - in ein Hölderlinzimmer, in dem der Dichter nie gelebt hat, voll gestopft mit unechten Hölderlinmöbeln.

Erst in den 1980er Jahren wurde das Hölderlinzimmer wieder in das obere, richtige Stockwerk zurückverlegt. Seither stehen dort zwei Stühle mit der Lehne zum Fenster. An der Wand hängen Gedichte. Immer wieder soll Hölderlin dort mit einem Glas Wein in der Hand barfuss über die knarrenden Dielen gelaufen sein, berauscht von Worten und wahnhaften Fantasien.

In den Vitrinen der anderen Räume, die von der Hölderlingesellschaft zum Museum umgestaltet wurden, findet man unter anderem den einzigen erhaltenen Brief an die Mutter sowie das Zeugnis vom Stift, das dem später verwirrten Dichter mit gefälliger Gestik, angenehmer Sprache und ausgeprägtem Urteilsvermögen musterknabenhafte Qualitäten bescheinigt.

Auch das Grab des Dichters auf dem Tübinger Stadtfriedhof weckt immer wieder Begehrlichkeiten. In den Weltkriegswirren rückte zum 100.Todestag "braune Prominenz" an, um einen Lorbeerkranz an den Grabpfeiler zu hängen. Zum 200.Geburtstag war es ein geheimer Jakobinerclub, der dem Verstorbenen unter dem Klang der Marseillaise seine Aufwartung machte.

In Tübingen selbst schien man allerdings lange Zeit nicht so recht gewusst zu haben, wen man da am 7.Juni1843 im schlichten Sarg bei Gewitterregen unter die Erde gebracht hatte. "Hölderle Studiosus" steht da nur bis heute im Grabverzeichnis.

Information: Verkehrsverein Tübingen, An der Neckarbrücke, 72072 Tübingen, Telefon 07071/91360, Fax 07071/35070.

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