Kykladen-Insel: Wo die Zeit stillsteht

Urlaub auf der Kykladen-Insel Folegandros ist wie eine Reise in die Vergangenheit.

Kykladen-Insel: Wo die Zeit stillsteht
Foto: Helge Sobik

Folegandros. Alles in allem sind es Hunderte. Sie stehen in Zweier-, Vierer- und seltener auch in Sechsergrüppchen herum, auf winzigen Terrassen vor den hölzernen Eingangstüren, unter Pfefferbäumchen auf den Plätzen im Ortszentrum. Und unter Lichterketten. Sie sind hellgrün, hellblau, über die Jahre ein paar Mal übermalt, fast alle mit Geflecht bespannt. Und fast jeder wackelt auf dem alten Pflaster von Chora: all die vielen Stühlchen der Tavernen der Insel Folegandros.

So muss es sein, so gehört es, so soll es sich anfühlen. Und wer außerhalb von Juli und August auf der kleinen Kykladen-Insel ist, kann sich nicht vorstellen, dass sie jemals alle zeitgleich besetzt sein könnten. Denn eigentlich ist Folegandros still, viel ruhiger als die 45 Fahrtminuten mit der Katamaran-Expressfähre entfernte dreimal so große Insel Santorin. Sogar so etwas wie ihr Gegenentwurf. Folegandros muss ohne Flughafen auskommen, die Anreise gestaltet sich aufwendiger, zeitraubender, ein ganz kleines bisschen strapaziöser.

Das führt dazu, dass ein ganz anderes Publikum kommt: Die Europe-in-a-week-Chinesen und -Amerikaner, die Hochzeitsreise-Japaner, die Wochenend-Trip-Urlauber aus Mitteleuropa — sie alle tummeln sich auf Santorin, feiern dort jeden Sonnenuntergang mit Applaus und einem Cocktail in der Hand, manchmal mit Gejohle, schieben sich durch die Bilderbuch-Gassen zwischen schneeweißen Häuschen am Hang mit blauen Fenstern hindurch.

Folegandros sieht kaum anders aus, bloß weniger herausgeputzt und renoviert. Es ist mehr Platz für den Alltag geblieben, für kleine Krämerläden und die Altstadt-Bäckerei, mehr Zeit fürs Plaudern und für einheimische Kinder, die in den Gassen Geburtstag feiern.

Die Fremden, die hierher kommen, bleiben ein oder zwei Wochen. Deshalb ist es umso stiller. Um all die Stühlchen gibt es keinen Wettstreit: Es sind reichlich vorhanden — jeden Morgen zum Frühstück, wenn Joghurt, frisch gepresster Saft und Obst aufgetragen werden, dazu Weißbrot und Ziegenkäse von der Insel. Später zum Mittagessen unter freiem Himmel, wenn es nach Fleisch, nach Kräutern riecht. Abends, wenn auf den Grills der Tavernen der frisch gefangene Fisch des Tages brutzelt. Und nachts, wenn irgendwer die Gitarre rausgeholt hat und ein anderer dazu singt.

Wer dort den schönsten Sonnenuntergang erleben will, klettert in der Stunde davor die Stufen des Serpentinen-Weges zur Panagia-Kirche hoch über Chora hinauf, hockt sich dort auf die Umfassungsmauer und wartet, bis sich der Himmel verfärbt und der Feuerball Richtung Ägäis sinkt. Auf Folegandros begehen sie den Sonnenuntergang als Ereignis, nicht als Event. Fast immer ohne Applaus, ohne Extrovertiertheit. Sie saugen ihn auf, tragen ihn anschließend in sich, bewahren das Bild davon, die Atmosphäre. Und wer irgendwem gerade etwas sagen will, während die Sonne versinkt, der flüstert es nur. Lediglich die drei Esel auf der Weide gleich nebenan halten sich diesmal nicht daran.

Ganz unerkannt sind im Sommer regelmäßig zwei Herren auf dem Plateau der Kirche mit dabei, die all das besonders zu genießen scheinen — wahrscheinlich, weil es so enorm griechisch aussieht, und sich so anfühlt. Und wahrscheinlich auch, weil es für jemanden wie sie kein intensiveres Heimatgefühl geben kann, als in solchen Momenten und bei diesem Ausblick über quaderförmige Häuschen in Weiß, über Kirchenkuppeln und Klippen aufs Meer zu schauen. Es sind die Söhne des letzten Königs von Griechenland, die Prinzen Paul und Nikoalos. Sie verbringen den Urlaub mit ihren Familien gern auf Folegandros.

Warum Danai Pateli jedes Frühjahr aus Athen an den Ortsrand von Chora zieht und erst im Oktober zurückfährt, wenn auch das letzte Hotel seine Pforten geschlossen hat und nur noch 450 überzeugte Allwetter-Insulaner auf dem zwölfeinhalb Kilometer langen und weniger als vier Kilometer breiten Eiland bleiben und auf die Winterstürme warten? Weil sie während der Saison hier arbeitet und von dieser Stimmung für keinen anderen Job der Welt weg will. Wann es auf Folegandros am schönsten ist? „Jeden Morgen, wenn die Sonne gerade aufgeht und ich mit meinem Hund joggen gehe“, sagt sie.

Es ist, bevor die meisten Urlauber aufstehen. Sie verteilen sich auf ein paar Hotels am Altstadtrand von Chora, auf ein, zwei einfache Quartiere im historischen Zentrum und auf ein paar Neubauten etwas außerhalb und unten am Hafen im dreieinhalb Kilometer entfernten Örtchen Karavostasis. Es ist, bevor sich die ersten Frühstücksgäste auf die Stühlchen setzen, lange bevor jemand an den Stränden sein Badelaken ausbreitet. Es ist die Zeit, wenn sich die Kelche der Wiesenblumen am Wegesrand gerade erst öffnen.

Folegandros ist je nach Jahreszeit hellgrün oder rotbraun, Chora ist weiß — und alles drumherum und obendrüber ist sowieso Blau. Das sind keine schlechten Aussichten. Und die Stühlchen gibt es übrigens auch in Rot, Gelb, Braun und Weiß. Der schönste Platz auf Folegandros? Insel-Priester Panagiotis weiß die Antwort. Er muss sie wissen, denn der bald 70-jährige Mann mit dem grauen Bart und den gütigen Augen, ist dort geboren. „Der schönste Platz ist nah bei Gott“, sagt er. Und wo jemand diese Nähe findet, das ist ganz individuell: „In meiner Kapelle in der Ortschaft Ano Mera zum Beispiel. Ich habe sie gerade erst zu Ehren der Heiligen Methodia errichtet. Eine von 95 Kirchen und Kapellen auf Folegandros.“ Und noch einen Lieblingsplatz hat er: „Am Strand von Ambeli. Dort, wo die Schotterstraße zu Ende ist, mitten in der Natur.“ Er hat dort ein Häuschen mit kaum mehr als einem Bett darin. Und einem Gärtchen drumherum. Dort geht Panagiotis mit seiner Frau schwimmen, dort sitzen sie gern bei nichts als Sternenbeleuchtung und lauschen der Musik, die der Wind über den Decks vorbeifahrender Kreuzfahrtschiffe mitgenommen hat und über dem Strand wieder fallen lässt.

Chora mit all den Stühlchen ist dann weit weg. Ob sich etwas geändert hat seit seiner Kindheit auf Folegandros, das er als nachteilig empfindet? Er überlegt lange und lächelt milde: „Jetzt gibt es mehr Straßen. Da muss man vorsichtiger sein. Vor 60 Jahren waren es nur Pfade, und wir kannten jeden Stein.“ Am Ortsrand von Chora hat kürzlich jemand eine moderne Lounge eröffnet: chillig, irgendwie großstädtisch, mit hellen Allwetter-Sofas, über denen bassbetonte Musik aus versteckten Boxen plumpst. Der Wirt sitzt dort diesen Nachmittag ganz allein unterm weißen Sonnensegel und fummelt gedankenverloren an seinem Smartphone herum. All die anderen hocken lieber ein paar Schritte weiter auf alten Stühlchen in Hellgrün und Hellblau. Und freuen sich, wenn die auf unebenen Pflaster ein bisschen vor sich hin wackeln. Das passt besser hierher. Es ist das Lebensgefühl von Folegandros. Die Reise wurde unterstützt von Marketing Greece.

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