Kein Après-Ski, keine Shoppingmalls und obendrein noch ab vom Schuss – was sucht man also im Ultental? Die pure Woll-Lust

Sich mal wieder fühlen wie in Abrahams Schoß. Wie ein frisch geschlüpftes Küken. Vom Leben geküsst. Völlig losgelöst, völlig schwerelos – gerade in diesen Zeit ein Traum. Ohne Zeitdruck, dafür mit sanfter Wellnessmusik oder Vogelgezwitscher in den Ohren.

 Die Schwemmalm ist eine Oase der Stille und ein Idyll unter den Wintersportgebieten.

Die Schwemmalm ist eine Oase der Stille und ein Idyll unter den Wintersportgebieten.

Foto: Martin Cyris

Dazu der würzige Duft von Wiesenkräutern in der Nase. Pures Wohlgefühl, so sieht Urlaub aus, wie in Watte gepackt.

Oder in Wolle, wie beim Ultner Schafwollbad. Eine Mitarbeiterin des Arosea Hotels schwebt in den Wellnessbereich und illuminiert den Raum auf Candle-Light-Atmosphäre. Im Hintergrund säuseln weiche Plingplangplong-Klänge, in einer Schale liegen Zirbenholzspäne und versprühen ihren Duft – den Signature-Duft der Alpen, der erwiesenermaßen den Blutdruck herunterdimmt. Auf der Massageliege warten zwei perlweiße Schafwolldecken. Die obere wird zurückgeschlagen. Sodann streut die Wellnessfee eine Mischung aus getrockneten Wiesenkräutern auf die untere Decke und arbeitet sie vorsichtig in das fluffige Material ein. Endlich darf ich mein Haupt auf dieses wollene Heiabettchen ablegen. Ganz, wie Gott mich schuf. Zumindest fast, wäre da nicht dieser obligatorische Massagetanga, den selbstverständlich jeder Schafwollbadende tragen muss.

Mit zwei Wollbäuschen werde ich in den kommenden 50 Minuten massiert. Was heißt massiert? Eher sanft berührt, gestreichelt. Ich bekomme davon fast nichts mit, denn ich fühle mich wie ein Lamm beim Schäfchenzählen. Mein Geist entrückt unbemerkt irgendwo hin. Irgendwo hin in den Äther. Völlig losgelöst, völlig schwerelos.

Was ist der Sinn und Zweck dieser ganzen Woll-Lust? Was viele nicht (mehr) wissen: Schafwolle ist ein äußerst gesundes Material. Nicht nur, weil es auf natürliche Weise hergestellt wird, sondern auch, weil es die Körpertemperatur reguliert und viele gesundheitsfördernde Stoffe enthält. Unter anderem das Lanolin, das Wollwachs. Es reinigt die Haut, ist bakterienabweisend und fördert die Wundheilung. Und die Wolle fördert einen erholsamen Schlaf, was ich nur bestätigen kann, als ich nach der Behandlung wieder im Hier und Jetzt ankomme.

Schafzucht hat eine lange Tradition im Ultental. Doch das Ultner Bergschaf diente lange Zeit nur noch als Fleischlieferant. Die Wolle wurde entsorgt, keiner wollte sich mehr wie zu Urgroßvaters Zeiten die Mühe machen, sie weiterzuverarbeiten. Etwa zu Kissen, Kleidung oder Filzpantoffeln. Wäre da nicht die Hartnäckigkeit einer einheimischen Bäuerin: Traudl Schwienbacher ist ein Ultner Original, eine Kräuterfrau und sanfte Kämpferin für die Natur. Auf ihrer Ultner „Winterschule“ lehrt sie Naturverbundenheit und gibt ihr Wissen über Pflanzen und Kräuter weiter.

Ihr liegt außerdem daran, mit Hilfe von Dozenten handwerkliche Traditionen zu erhalten, „damit die Bauern im Tal bleiben und sich mit Hilfe von handwerklichem Nebenerwerb ihre Existenz erhalten können“. Womit sie ganz nebenbei mit dazu beigetragen hat, dass das Ultental seine urige Authentizität und unverfälschte Kultur bewahren konnte, die man andernorts immer seltener antrifft.

Ihre Winterschule begann vor fast 30 Jahren als wirtschaftliches Kamikazeunternehmen mit einer Handvoll Teilnehmern, als von Umweltschutz und Regionalität noch kaum einer etwas hören wollte. Mittlerweile sind die Filz-, Flecht-, Färbe-, Kräuter- und Klöppelkurse derart beliebt, dass es lange Wartelisten gibt. Unter den hunderten Teilnehmern pro Jahr kommen sogar welche aus Deutschland. Und das, nachdem nicht wenige Einheimische Traudl Schwienbacher ob ihrer einst visionären Idee, Natur und regionale Traditionen mit dem modernen Menschen zu versöhnen, belächelten. Ein Nachbar erinnert sich: „Einmal haben die am Abend vor Anmeldeschluss sogar in Scharen vor ihrem Haus gezeltet, um fürs Wintersemester aufgenommen zu werden“, erzählt Stefan Kaserbacher, der Tourismusdirektor des Ultentals.

Die Schafwolldecken für das Schafwollbad hat das Hotel Arosea ebenfalls Traudl Schwienbacher zu verdanken. Vor ein paar Jahren gründete die 74-Jährige eine Sozialgenossenschaft namens „Lebenswertes Ulten“. In der angegliederten Wollmanufaktur „Bergauf“ wird die Schafwolle der Ultner Bergbauern weiterverarbeitet. Sie wollte sich nicht damit abfinden, dass die Wolle einfach im Müll landet. „Schafwolle ersetzt die halbe Hausapotheke“, berichtet Traudl Schwienbacher. Im „Bergauf“ wird natürlich auch Kleidung aus Schafwolle produziert, aber auch Gegenstände fürs Gastgewerbe, zum Beispiel Tischsets oder Brotkörbe. „Vor allem Gäste aus Deutschland sind offen für das Thema Plastikvermeidung“, sagt Wolfgang Raffeiner, Geschäftsführer der Genossenschaft. Und nebenbei sorgen die Produkte aus Wolle und Filz in den Hotels und Gasthöfen für eine urige Atmosphäre à la Ultental. Eine „bärige“ Sache, wie man in Südtirol sagt.

Von Meran aus geht die Fahrt in rund 35 Minuten über eine kurvenreiche Strecke ins Ultental. Auch wegen der Abgeschiedenheit konnten sich auffallend viele Traditionen, eine unverfälschte regionale Küche und die typische Tälerarchitektur erhalten. Was früher als rückständig und hinterwäldlerisch angesehen wurde, gilt heute als authentisch, als regional und echt. Und lockt Touristen, die das Bodenständige lieben. In eine atemberaubende Berglandschaft der Ortler-Alpen, wovon der obere Teil des Tals zum berühmtem Nationalpark Stilfser Joch gehört.

„Einmal kam ein deutscher Tourist zu mir und sagte: ‚Ihr liegt zwar am Arsch der Welt. Aber am schönsten Arsch der Welt“, erzählt Tourismusdirektor Kaserbacher vergnügt. Er hat gut lachen, denn Umfragen bestätigen, dass immer mehr Touristen im Urlaub ihre Ruhe und Zeit für die Familie haben wollen. „The trend is our friend“, so Stefan Kaserbacher, „wir haben uns nie verbogen und dem Tourismus untergeordnet.“ Im gesamten Tal gibt es keine einzige Shoppingmall und im kleinen Familienskigebiet des Ultentals, der Schwemmalm, wird man Après-Ski vergeblich suchen. Dafür gibt es mehr als 30 bewirtschaftete Berghütten – „eine ganze Menge“, so der Touristiker. Sie können sich halten, auch, weil es im Tal keine Hotels mit Dreiviertelpension gibt. Übrigens sind sämtliche Hotels familiengeführt, auch das ist eine Ultner Spezialität.

Auf den meisten Hütten werden regionale Produkte verarbeitet. Man merkt es an der Qualität, aber nicht unbedingt am Preis. Anders als in den großen und teuren Skigebieten Österreichs und Südtirols, etwa dem Grödnertal. Von dort flüchten übrigens regelmäßig einheimische Skicracks ins Ultental. „Weil sie bei uns Platz auf der Piste haben“, berichtet Herbert Gamper, ein altgedienter Skilehrer auf der Schwemmalm.

Einst war das Ultental für seine Heilquellen bekannt. Es verfügte über vier Bäder, die Prominenz von weit her anzog, zum Beispiel Thomas Mann, Franz Kafka oder Kaiserin Sisi. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg verfielen die Bäder und sind heute Ruinen. Bis auf eines: Bad Überwasser. Ein Ehepaar aus Meran restaurierte das halb verfallene Gebäude, das früher den Bauern als Arme-Leute-Bad zur Verfügung stand und zwischendurch sogar als Proberaum für Bands aus dem Ultental diente.

Es muss im Urlaub eben nicht immer ein Bad in der Menge sein. Es genügt manchmal auch ein Schafwollbad oder ein Bad in einem Zuber – aber bitte am schönsten A…. der Welt.

Der Autor reiste mit Unterstützung von IDM Südtirol.

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