Auf Wolfspirsch in der Heide

In der Lüneburger Heide kann man als „Bürgerwissenschaftler“ an der offiziellen Wolfsforschung teilnehmen.

„Und jetzt heult einmal alle zusammen!“, sagt Tierhüterin Imke Mohr. „Mal sehen, ob sie antworten.“ Ihre Zuhörer schauen sie erst erstaunt an, doch dann stimmen sie ein lautes Jaulen an — so, wie Wölfe in der Fantasie der Menschen eben klingen. Die echten Wölfe dösen derweil hinterm Zaun des Wolfcenters Dörverden in weichen Sandkuhlen und sind zunächst gar nicht beeindruckt. Doch dann recken sie die Schnauzen in die Luft und schließen sich dem Geheul der Menschen an — ein wilder, archaischer Klang und ein Gänsehautmoment für die Hobby-Forscher. Naturfreunde aus aller Welt sind im vergangenen Sommer nach Niedersachsen gereist, um an der ersten offiziellen Wolfsexpedition von „Bürgerwissenschaftlern“ teilzunehmen. Ihre Funde, Beobachtungen und Ergebnisse fließen ins offizielle Wolfsmonitoring in Niedersachsen mit ein.

Auf Wolfspirsch in der Heide
Foto: Theo Grüntjens

Zum Beispiel Yvette aus Texas, Major bei der US-Armee, die von einem Job mit Tieren träumt. Die IT-Beraterin Abilasha aus Indien will in den Ferien etwas Sinnvolles tun. Und Michael hat seinen Job als Controller in Stuttgart gekündigt, weil er in der Natur arbeiten will. An den ersten beiden Tagen erhalten sie einen Crashkurs. Sie lernen, mit GPS-Gerät und Walkie-Talkie umzugehen. Sie erfahren, wie man Wolfs- und Hundespuren unterscheidet, wie man einen Fund dokumentiert und DNA-Proben nimmt — für die Wissenschaft zählen nur eindeutige Fakten.

Alle brennen vor Ungeduld, als es endlich ins Feld geht. Nebel hängt über der Heide, Regentropfen funkeln im Gras. Die Jungforscher folgen dem breiten Forstweg, die Augen auf den Boden geheftet. Plötzlich eine aufgeregte Stimme: „Eine Spur, eine Spur!“ Alle laufen zusammen, doch Peter Schütte, der Expeditionsleiter des Veranstalters Biosphere Expeditions, gibt Entwarnung: „Die Abdrücke sind zu klein. Das kann kein Wolf gewesen sein.“ Enttäuschte Blicke. Fünfhundert Meter weiter der nächste Fund: ein Haufen verwitterter Losung, mit Haaren darin und kleinen Knochenstücken. War hier ein Wolf unterwegs? Schütte kniet sich hin, hält die Nase über den Haufen — und zuckt zurück. Die Augen seiner Begleiter leuchten: „Der Geruch von Wolfskot zieht Dir die Schuhe aus, es gibt nichts Brutaleres“, hatte der Expeditionsleiter am Vortag erklärt.

Jetzt sind alle gefordert: Nina lässt den Stift über die Checkliste flitzen, die zu jedem Fund angelegt wird, James misst den Haufen mit einem Zollstock und Abilasha packt Plastikhandschuhe und einen Becher mit Ethanol aus: Nur eine DNA-Probe liefert den endgültigen Beweis. „Ich glaube, ich kann das nicht“, sagt sie, doch dann packt sie beherzt eine Probe und füllt sie in den Becher.

Am nächsten Tag führt Theo Grüntjens das Team, Förster im Ruhestand, Jäger und Wolfberater des Bundeslandes. Grüntjens war der erste, der 2006 einem Wolf in Niedersachsen begegnete: „Ich war völlig perplex, als ich ihn sah“, erinnert er sich. „Der Wolf wohl auch. Er rannte in die eine Richtung und ich in die andere. Gleichzeitig dachte ich: Was für ein Blödsinn, jetzt kann ich ihn ja gar nicht beobachten.“ Der Jäger ist fasziniert von den Tieren. Ganz anders als viele seiner Kollegen, die sich wünschen, dass die Wölfe zum Abschuss freigegeben werden. Doch die Rückkehrer stehen unter dem strengen Schutz der EU.

Um die Wölfe ist ein heftiger Streit entbrannt in Deutschland, der auch in den sozialen Medien — und in Wahlkämpfen — ausgetragen wird. „Der Wolf ist ein Konkurrent, der mitjagt“, sagt Grüntjens. „Aber es ist machbar, mit ihm zu teilen. Weil das Wild seinen gewohnten Tagesrhythmus ändert, müssten die Jäger sich wieder das Wissen aneignen, Spuren zu lesen: „Ich kann nicht mehr sicher sein, dass das Wild Punkt 17.24 Uhr aus dem Wald kommt — aber das macht es ja auch spannend!“

Seit dem Jahr 2000 leben wieder Wölfe in Deutschland, zum ersten Mal seit rund 150 Jahren. Offiziell wurden zuletzt 60 Rudel, 13 Paare und drei ortsfeste Einzelwölfe gezählt. Die Wölfe verbreiten sich zwar weiter, doch dem Wachstum sind natürliche Grenzen gesetzt: Ein Rudel in einem durchschnittlich 250 Quadratkilometer großen Wolfsrevier umfasst rund ein Dutzend Tiere — der Nachwuchs muss weiterziehen.

Ein Problem sind Risse von Schafen, obwohl Nutztiere nur weniger als ein Prozent der Wolfsnahrung ausmachen, denn der Wolf zieht Wild vor. In diesen Fällen zahlen die Bundesländer Entschädigungen. Seit der Rückkehr der Wölfe flossen dafür rund 500 000 Euro in Deutschland.

Jeden Abend versammeln sich die Jungforscher, um Bilanz zu ziehen: Sie erzählen, präsentieren Funde, schnuppern an Tüten mit Losung und pinnen Nadeln der Fundorte in eine Landkarte. Expeditionsleiter Peter Schütte sortiert: Eine Probe geht ins Labor, eine andere ist nicht frisch genug. Eine Spur ist eindeutig, eine andere nicht lang genug. Die Kriterien sind streng. Trotzdem war die Bilanz 2017 beachtlich: Dank der „Bürgerwissenschaftler“ konnte die Präsenz eines weiteren Wolfsrudels von insgesamt 15 in Niedersachsen nachgewiesen werden.

Nach dem Abendessen klingt der Tag am Lagerfeuer aus. Fledermäuse flattern durch den nachtschwarzen Himmel über dem historischen Gut Sunder. Einige Forscheraugen sehen schon müde aus, andere leuchten noch bei den Anekdoten des Tages. „Eigentlich bin ich ganz froh, dass wir heute keine Losung gefunden haben“, gesteht Abilasha. „Das Einsammeln wäre bestimmt wieder mein Job gewesen.“ Der Autor reiste mit Unterstützung von Biosphere Expeditions.

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