Haarverlust ist in den Köpfen der meisten Menschen eine Alterserscheinung. Tritt er deshalb deutlich vor der Rente ein, ist er für viele mit Scham verbunden. Dabei ist es nur ein natürliches Phänomen ähnlich wie Haarfarbe oder Nasenlänge.
Der Herdentrieb der Internetgemeinschaft ist bekanntlich schnell dabei, wenn es um das Verbreiten von Theorien geht – so auch bei Antworten darauf, warum Männer Haare verlieren. So findet man im Web genügend Einträge, die von einer regelrechten Schwemme immer schlechter bedeckter Jungmännerhäupter sprechen. Die vermeintlichen Gründe dahinter werden mitgeliefert – das viele Soja, das vom Tierfutter bis zum Convenience-Food-Zusatz heutzutage genutzt würde, sei wegen seiner enthaltenen Phytoöstrogene, also Stoffen, die weiblichen Hormonen ähneln, Schuld daran. Teilweise sprechen sogar seriöse Zeitungen von einem „Millennial-Problem“, also einem, das junge Männer aus dem Geburtszeitraum zwischen den frühen 1980ern und späten 1990ern betrifft. Doch ist das so? Verwandelt eine rücksichtslose Nahrungsindustrie ganze Männergenerationen in Kojaks? Das, so viel sei verraten, ist rettungslos übertrieben. Die wahren Gründe hinter den gefühlt vielen Glatzen liegen ganz woanders.
Keine Glatzenschwemme
Zunächst einmal das Wichtigste: Es stimmt nicht, dass unter der derzeitigen Generation junger Männer mehr mit Haarausfall vertreten wären als unter ihren Vorgängern. Das einzige, was sich unterscheidet: Die Millennials sind die erste Generation, die sich über das Phänomen global im Netz austauschen konnte/kann.
Als die Mitglieder der Generation X, der Millennial-Vorgänger, sowie der davor existenten Baby-Boomer jung waren und mit Haarverlust zu kämpfen hatten, war das Internet noch in den Kinderschuhen bzw. nicht existent. Als die ersten Millennials jedoch erwachsen wurden und ihr Haupthaar ging, ging auch das alte Jahrtausend und das Internet wurde zum Massenphänomen – und plötzlich waren in den Proto-Foren und -Sozialnetzwerken überall Hilferufe früh ausdünnender Jung-Männer zu lesen. Der Eindruck einer Glatzenschwemme war da und hält sich hartnäckig bis heute, obwohl er schlicht falsch ist.
Tatsache ist hingegen folgendes: Egal wann ein Mann geboren wurde, es besteht immer ein etwa 30-prozentiges Risiko, dass schon um seinem 30. Geburtstag die Haare Goodbye sagen oder es bereits getan haben. Das war schon immer so – bereits vom US-Gründervater und zweitem Präsidenten John Adams (*1735) ist bekannt, dass er schon als junger Mann die Haare verlor. Bloß war es seinerzeit en Vogue, Perücken zu tragen, sodass dies in seinem Alltag im Verborgenen blieb. Weder hat Soja etwas damit zu tun noch Chemtrails noch sonstige Verschwörungstheorien, sondern:
Es sind immer wieder die Gene
Lange Zeit ging zumindest die seriöse Wissenschaft davon aus, dass es das männlichste Hormon von allen, Testosteron, sei, das voluminösem Haupthaar den Garaus machen würde. Die Erklärung: bei vielen Männern gäbe es eine erbliche Überempfindlichkeit der Haarwurzeln gegenüber dem „Männer-Hormon“, sodass diese in der Folge absterben würden.
Klingt ebenfalls plausibel und hatte für nicht wenige Jung-Glatzen sogar den Vorteil, sich in einer Riege mit so männlichen Prominenten wie Bruce Willis, Jason Statham und Vin Diesel sehen zu können. Allerdings: Die Testosteron-Theorie wurde 2017 durch zwei deutsche Studien entkräftet:
Einfach ausgedrückt: Die Genänderungen, die unter anderem auch definieren, wie groß ein Mann wird, wann er in die Pubertät kommt, wie hell seine Haut ist, definieren auch, wann das Ablaufdatum für sein Haupthaar eintreten wird.
Keine Sorge, auch wenn Testosteron nichts damit zu tun hat, gilt dennoch zumindest die Vollglatze, auch wenn sie größtenteils rasiert ist, als reichlich vorteilhaftes Fashion-Statement, dem trotzdem sehr männliche Attribute wie Entschlussfreudigkeit zugeschrieben werden – auch das ist wissenschaftlich eindeutig erwiesen.
Ein Schema der Angst
Wann Haarverlust eintritt, ist also nur eine Frage der Zeit, bei der derjenige männliche Prozentsatz, der sich noch über eine volle Frisur freuen kann, von Jahr zu Jahr immer geringer wird, bis man jenseits der 70 schon von einem seltenen Glücksfall sprechen kann.
Doch während die allermeisten angehörigen der Rentner-Generationen (amtierende US-Präsidenten ausgenommen) darüber nicht in Haarspalterei verfallen, wird der Anteil derer, für die Haarverlust ein herber Verlust ist, umso größer, je niedriger das Alter ist.
Und wenn es etwas wie ein Diagramm der verlorenen Haare gibt, das alle Männer zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenbringt, dann das sogenannte Hamilton-Norwood-Schema. Dieses 1951 entwickelte und 1975 verbesserte Schema ist für viele von Haarverlust betroffene Männer wie eine Roadmap, anhand derer sie erkennen können, was noch auf sie zukommt.
Denn das Hamilton-Norwood-Diagramm teilt den Verlust in zwölf Stufen ein. Es beginnt mit immer tiefer werdenden Geheimratsecken, meist folgt dann auch eine größer werdende Lücke auf dem Hinterkopf, bis irgendwann nur noch ein haariger Cäsarenkranz verbleibt. Für betroffene Männer wirkt das Schema wie eine Zukunftsvision – denn die beiden Forscher James Hamilton und O’Tar Norwood stellten schon damals fest, dass eine überwältigende Mehrheit aller Haarverluste den gleichen Ablauf hat.
Rasierer vor dem Badezimmerspiegel oder Haartransplantation in der Türkei
Haarverlust mag bei vielen früh beginnen, läuft aber meistens über viele Jahre ab. Was allerdings die allermeisten Männer einsehen müssen, ist folgendes: Im Urteil der Masse gibt es nur die Wahl zwischen ganz oder gar nicht. Halbglatzen in jungen Jahren fallen bei sämtlichen Umfragen in der Wertung immer durch. Ähnlich wie Toupets oder Kaschier-Sprays, denen häufig der Rochus der Verzweiflungshandlung anhängt.
Dabei können die erwähnten Millennials sogar noch froh sein, in der heutigen Zeit zu leben. Denn sowohl von den medizinisch/technischen Möglichkeiten wie der gesellschaftlichen Akzeptanz können sie auf zwei Optionen zurückgreifen – wo ihre Vorgänger nur „Überkämmen mit seitlichem Haupthaar“ und das Toupet hatten:
Wer sich schlicht nicht mit dem Verlust der Haare abfinden kann, lässt sich welche transplantieren. Der Ablauf einer Haarverpflanzung ist keine große Sache, weil technisch mittlerweile bestens beherrscht. Vielfach verbindet man(n) sie auch mit einem Urlaub und lässt eine Haarverpflanzung in der Türkei durchführen. Vorteil: Transplantierte Haare „überlisten“ den genetischen Nachteil und fallen nicht mehr aus. Das Haar wird also wieder voll und bleibt es auch.
Wer derartige Eingriffe scheut, greift einfach zum Haartrimmer und/oder Nassrasierer und macht mit sämtlichen Haaren oberhalb von Nacken und Augenbrauen Schluss. Ja, das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, hat natürlich einen gewissen Pflegeaufwand. Dafür aber kann man das Kapitel „Styling und Haarpflege“ für dieses Leben ad acta legen. Übrigens entscheiden sich nicht wenige Männer dafür, dem Mangel an Haupthaar ein Gegengewicht in Form verstärkten Bartwachstums entgegenzustellen.
Wer jedoch glaubt, mit den diversen Wässerchen und Mittelchen aus der TV-Werbung eine dritte Alternative in Petto zu haben, liegt leider falsch. Es gibt nur einen Wirkstoff, der medizinisch erwiesen bremst (nicht „stoppt“), Minoxidil. Das kommt aber bei den meisten mit Nebenwirkungen wie trockener Kopfhaut, starken Schuppen oder Brennen/Juckreiz. Dann doch lieber Tabula Rasa – entweder beim Doc oder zuhause vor dem Badezimmerspiegel.
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