Brustkrebsvorsorge : Wenn Hände Krebs erspüren
Die Taktilografie optimiert die Brustkrebsfrüherkennung. Die Methode wird von blinden Untersucherinnen mit ihrem feinen Tastsinn durchgeführt.
Mirell Gräßer hat ihre Patientin persönlich im Wartezimmer abgeholt und geht voran. Der Raum ist klein, aber gemütlich. Dezentes, warmes Licht sorgt für eine angenehme Atmosphäre. Neben einem Tisch mit Computer gibt es eine Untersuchungsliege. Mirell Gräßer setzt sich an den Schreibtisch und erfragt zuerst die Daten ihrer Patientin. Tippt dann alles rasch in den Computer ein. Auf den ersten Blick stellt man nicht fest, dass sie nichts sieht. Denn Mirell Gräßer ist blind, seit sie ein Säugling war. Sie leidet an einer Sonderform der Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa. Und was macht sie dann hier, in einer Frauenarztpraxis? Ganz einfach: Sie arbeitet in der Brustkrebsfrüherkennung – und das bereits seit fast 13 Jahren.
Zuvor war sie als Telefonistin tätig und nutzte dann die Chance, dank des Inklusionsprojektes „Discovering Hands“ einen ganz anderen Berufsweg einzuschlagen. Sie war deutschlandweit eine der ersten, die sich 2007 zu medizinischen Tastuntersucherin (MTU) ausbilden ließ. Die neunmonatige Weiterbildung mit vielen medizinischen Inhalten schloss mit einer Prüfung vor der Ärztekammer ab. Nun kann sie ihr Handicap sinnvoll einsetzen und anderen Frauen helfen.
Ihre Arbeit als MTU ist eine wichtige Ergänzung zur Arbeit der Frauenärzte. Denn die Ärzte haben nicht die Fähigkeiten, die Brust in dieser Form abzutasten und die Mammografie steht erst Frauen ab 50 Jahren alle zwei Jahre zur Verfügung. Für jüngere Frauen gibt es den Brust-Ultraschall und eben die MTU. Beides sind Eigenleistungen (IGEL), die Kosten für die MTU (ca. 46,50 Euro) wird von immer mehr Krankenkassen übernommen.
Mirell Gräßer nimmt sich Zeit für die Untersuchung. Zu Beginn erklärt sie ihrer Patientin genau, was geschehen wird. Und entschuldigt sich sogar: „Ich habe leider immer sehr kalte Hände – ich hoffe, dass stört nicht zu sehr.“ Bevor es losgeht, legt Gräßer auf der Brust der Patientin ein kleines Koordinatensystem an. Dazu nutzt sie selbstklebende Streifen, die mit Braille-Schrift, also der Blindenschrift versehen sind. Zwei verlaufen senkrecht unter den Achseln und über den Brustwarzen, ein fünfter über dem Brustbein. „Falls ich etwas ertaste, kann ich so genau festlegen, wo die Ärztin später den Ultraschall ansetzen sollte“, erklärt sie.
Die Untersuchung selbst verläuft nach einem standardisierten Verfahren. Quadratzentimeter für Quadratzentimeter tastet sich Mirell Gräßer über die Brust. Mal mit wenig Druck, mal mit etwas mehr, um auch die tieferen Gewebeschichten erspüren zu können. Unangenehm ist das nicht – eher wie eine sanfte Massage. Die ruhige Art Gräßers lässt die Patientin schnell vergessen, dass es sich eigentlich um eine Vorsorgeuntersuchung handelt. Je nach Größe der Brust dauert das Procedere 30 bis 60 Minuten. Sollte Mirell Gräßer etwas ertasten, darf sie das der Patientin natürlich sagen, jedoch weder Vermutungen noch eine Diagnose äußern. Dafür ist im Anschluss die Frauenärztin zuständig.