Musik wirkt medizinische Wunder

Wer gezielt komponierten Klängen lauscht, kann den Blutdruck senken oder Kopfschmerzen lindern.

Düsseldorf. Musik öffnet nicht nur die Seele. Sie stimuliert auch das Gehirn wie keine andere Kunstform. Ob Mozarts "Kleine Nachtmusik", Jazz von Miles Davis oder treibender Techno: Komponierte Klänge lösen im Gehirn elektrische Signale aus, die dem Nervensystem diktieren, welcher Gefühlszustand Körper und Geist beherrschen soll. Der Neurophysiologe Erwin-Josef Speckmann schlussfolgert: "Durch diesen Effekt kann man Musik als Zusatzmedikament einsetzen."

Wer sich Musikstücken hingibt, vermag nicht nur Stress-Symptome zu lindern. "Es können auch der Blutzuckerspiegel gesenkt und der Blutdruck gemindert werden", sagt Speckmann. Der Hirnforscher, der als Professor an der Münsteraner Uni-Klinik tätig ist, wirbt seit Jahrzehnten für die medizinischen Möglichkeiten gezielten Musikkonsums. Seine These: Musik ist in der Lage, das Gehirn in unterschiedliche Aktivitäts-Modi zu versetzen.

Beschwingte Arrangements wie beispielsweise ein Wiener Walzer können das Gehirn in erhöhte Aufmerksamkeit versetzen. Ruhige Klänge wie spanische Gitarrenmusik bewirken hingegen ein niedriges Aktivitätsniveau. Der Spannungszustand im Gehirn wiederum beeinflusst den Rest des Körpers. Musik kann auf Grund dieser Eigenschaft medikamentöse Behandlungen ergänzen. Wer meditativer Musik lauscht, schaltet seine Hirnaktivität herunter. Dadurch sinkt der Blutdruck - eine sinnvolle Zusatz-Therapie für Menschen, die unter Bluthochdruck leiden.

Auf das Heilmittel Musik kann auch in der Schmerztherapie zurückgegriffen werden. Der Lüdenscheider Anästhesist und Schmerztherapeut Ralph Spintge empfiehlt Patienten, die mit Spannungskopfschmerzen zu kämpfen haben, mehrmals täglich in Klangwelten abzutauchen. Sein Rezept: Kopfhörer aufsetzen, beruhigende Musik wie spanische Gitarrenmelodien im Mp3-Player anwählen, sich in die Stücke vertiefen - und währenddessen muskuläre Entspannungsübungen machen. "Multimodales Therapieprogramm" nennt Spintge diese Kombination, zu der manchmal auch Arzneimittel verabreicht werden.

Besonders bei Büroangestellten, deren Körper durch die permanente Sitzhaltung verspannt sind, wirkt ein solches Programm, sagt Spintge. Beschwerden wie ein notorischer Brummschädel oder Rückenschmerzen, die durch Haltungsschäden verursacht werden, können dadurch abklingen.

Spintge vertraut auch bei Operationen auf die wundersame Kraft der Musik - dann nämlich, wenn er Patienten dabei helfen will, entspannt in den Narkose-Zustand hinüberzugleiten. "Die Klänge verringern im Blut die Ausschüttung von Schmerz- und Stresshormonen", erklärt er. Die Brückenfunktion übernimmt dabei - wie sonst auch - das Gehirn. In einigen Fällen könne Musik sogar Beruhigungsmittel überflüssig machen, sagt Spintge.

Die Wirkungsweise musikalischer Genres unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Was der eine als stressig und dissonant empfindet, kann auf den anderen beschaulich und entspannend wirken. "Die Assoziationen hängen vom Lebensumfeld und von der musikalischen Sozialisation ab", sagt der Neurophysiologe Speckmann. So kann es zu scheinbar widersprüchlichen Effekten kommen: Ein Heavy-Metal-Fan, der seit seiner Jugend harte Gitarrenriffs und kreischenden Gesang bevorzugt, verbindet mit den rabiaten Klängen womöglich erholsame Gefühle. Deshalb wäre es unsinnig, wenn Ärzte ihren Patienten vorschreiben würden, welchen Musikstil diese einsetzen sollen.

Verwunderlich ist es, dass eine derart wirkungsmächtige Erfindung wie die Musik bislang in der westlichen Schulmedizin nur am Rande Beachtung findet. Ein Grund, warum viele Mediziner ihr Potenzial ignorieren, sei das fehlende Wissen vieler Ärzte, erklärt Speckmann. Andererseits kosten die entsprechenden Beratungsgespräche mehr Zeit als herkömmliche Sprechstunden. Schließlich muss dabei auf die Persönlichkeit des Patienten eingegangen werden - dafür haben viele Ärzte keine Zeit. Nur Psychiater und Psychotherapeuten nutzen Musik des öfteren als therapeutisches Instrument.

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