AgeExplorer - So fühlt sich das Alter an

Ein Spezialanzug versetzt in die Zukunft. Die ungewöhnliche Zeitreise verspricht überraschende Einsichten.

Düsseldorf. Einen Geldautomaten zu bedienen, ist nun wirklich keine Kunst. Eine hinuntergefallene EC-Karte aufzuheben, ist keine Herausforderung. Dachte ich jedenfalls.

Nun aber ist mein Blick gelb eingetrübt. Die Buchstaben auf dem Bildschirm des Geldautomaten verschwimmen mit dem Hintergrund, die Schrift wird unscharf.

Ich fummele mit steifen Fingern in meiner Geldbörse nach der EC-Karte, im nächsten Moment liegt sie auf dem glatten Fliesenboden. Gefühlte zehn Minuten später richte ich mich aus meiner gebückten Haltung wieder auf. Verschwitzt, gestresst, genervt - aber in der Hand die EC-Karte.

Normalerweise kann es mir am Geldautomaten nicht schnell genug gehen. Heute aber bin ich siebzig. Das Bücken nach einem heruntergefallenen Gegenstand ist so anstrengend wie eine Trainingseinheit im Fitness-Studio. Meine Beine sind bleischwer, meine Ellbogen und Kniegelenke unbeweglich, und in meinen Handflächen sticht es, als hätte ich Arthritis.

Das Alter erreichte mich per Kurier - in einer großen, silbernen Kiste. In Begleitung von Dagmar Gerling: Sie arbeitet am Meyer-Hentschel-Institut, das einen Alterssimulationsanzug entwickelt hat und mir die ungewöhnliche Zeitreise ermöglicht.

Der sogenannte "Age-Explorer" besteht aus Hose, Jacke, Handschuhen, einem gefärbten Visier, Gehördämpfern - und versetzt seinen Träger in einen Durchschnitts-70-Jährigen mit typischen Alterserscheinungen.

"Im wahren Leben kommen die einzelnen Wehwehchen natürlich schleichend. Mit dem Anzug sind sie von einer Sekunde auf die andere und alle auf einmal da", erklärt Gerling, während sie mir die Gummimanschetten an Ellbogen und Knien noch mal festzurrt.

Sie macht das nicht zum ersten Mal. Vertreter aus Industrie, Handel und Banken sind bereits in den Anzug geschlüpft, um das Alter am eigenen Leib zu erleben - und ihre Produkte besser an die Bedürfnisse von Senioren anzupassen.

Ich quetsche mich in den Anzug mit insgesamt sechs Kilo Gewicht, verteilt auf Oberschenkel, Brust und Schultern, und streife die Handschuhe mit piksenden Klettverschlüssen in der Innenseite über. Der Geräusch-Dämpfer macht meine Verwandlung perfekt: Ab jetzt heißt es Lippenlesen.

So klebe ich auf dem Weg zum Düsseldorfer U-Bahn-Knoten Heinrich-Heine-Allee am Mund meiner Begleiterin. Gleichzeitig die Bordsteinkante im Blick zu behalten, ist fast unmöglich. Treppensteigen in diesem Astronauten-Outfit treibt mir den Schweiß auf die Stirn.

Dagmar Gerling scheucht mich durch die U-Bahn-Gänge, lässt mich einen Fahrschein am Automaten ziehen und die Fahrzeiten der Linien suchen. Kaum zu schaffen.

Die Last des Alters drückt auf meinen Schultern - ich strecke mich, um den Rücken zu entlasten. Im Supermarkt steht die nächste Aufgabe an: Ich soll mir Bananen kaufen.

Schon bei dem Versuch, die hauchdünnen Plastiktüten voneinander zu trennen und eine zu öffnen, scheitere ich. Da verliere ich die Geduld, versuche, diese rutschigen Dinger mit Gewalt zu lösen, doch der Klettverschluss macht sich schmerzhaft in meiner Handfläche bemerkbar: entzündliche Gelenkerkrankung.

Endlich habe ich die Tüte geöffnet, da lauert auf dem Weg zur Waage bereits die nächste Falle. Abgelenkt von anderen Kunden und den vielen Regalen übersehe ich eine Möhre am Boden. Ich stolpere, kann mich jedoch schnell fangen. Das hätte auch anders ausgehen können.

Wie viel ich nun für mein Obst zu zahlen habe, kann ich auf dem winzigen Etikett kaum erkennen. Genauso wenig wie die Inhaltsstoffe der Konserven, die ich in den Einkaufswagen lege. Mir egal: Blind kaufen ist immer noch besser als verhungern.

Völlig erschöpft wanke ich in die Schuhabteilung eines Kaufhauses an der Königsallee. Ein letztes Mal packt mich der Ehrgeiz, und ich suche mir ausgerechnet ein Paar mit Schnürsenkeln aus. Bald darauf bereue ich die Entscheidung. Meine geschundenen Hände sind mit dem Schnüren völlig überfordert.

Ich habe nur noch eines im Sinn: aus diesem Anzug herauszukommen. Als Dagmar Gerling mir schließlich den Dämpfer vom Ohr nimmt, macht sich Erleichterung breit - und ich ahne, wie laut ich in den vergangenen Stunden gebrüllt haben muss.

Dann verschwindet das Alter wieder in der silbernen Kiste. So schnell, wie es gekommen ist. Die Hoffnung aber, dass es noch eine ganze Weile dauert, bis das Alter bei mir noch mal zuschlägt - die bleibt.

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