Sprache: Darum weinen Babys

Kleine Kinder kündigen ihr Schreien und ihre Tränen durch Gesten bereits 31 Minuten vorher an.

Düsseldorf. Beginnt ein Baby zu weinen, werden wir nervös - auch wenn es ein fremdes Kind ist. Schließlich weint es nicht einfach aus Langeweile, sondern um ein bestimmtes Bedürfnis befriedigt zu bekommen.

"Ein Säugling kann weder nach der Brust greifen, wenn er Durst hat, noch kann er unter die warme Decke, wenn ihm kalt ist", sagt der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster. Deshalb macht sich ein Baby auf andere Weise bemerkbar: durchs Schreien.

Und das kündigt es bereits 31 Minuten vorher durch Räkeln, Gähnen, langes Strecken, Hin und her drehen des Kopfes und Schmatzen an. Reagiert niemand auf seine Signale, wählt es schließlich die harte Variante.

Dass uns das Weinen von Babys so nahe geht, hat laut Renz-Polster einen Grund: "Es ist überlebenswichtig. Denn Weinen sorgt dafür, dass wir - die Empfänger - uns um den kleinen Menschen kümmern und nach dem Rechten schauen sollen."

Die Entwicklungspsychologin Aletha J. Solter führt in ihrem Buch "Warum Babys weinen. Die Gefühle von Kleinkindern" zwei wesentliche Gründe für das Schreien der Kleinen an: Die wichtigste Funktion liegt darin, dass das Baby Bedürfnisse und Unbehagen mitteilen will. Es hat Hunger oder will gehalten werden, ihm ist kalt oder es fordert eine frische Windel.

Sind diese Bedürfnisse aber erfüllt, kann der zweite Grund eine Rolle spielen: emotionaler Stress. "Säuglinge weinen oft anhaltend, obwohl alle Bedürfnisse befriedigt sind. Durch dieses Weinen bauen sie aufgestaute Spannungen ab, und das hilft ihnen, sich zu entspannen", berichtet Solter. In wissenschaftlichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass nach dem Weinen Blutdruck, Pulsschlag und Körpertemperatur sinken und damit zu einer Entspannung des Körpers führen.

Renz-Polster führt noch weitere Gründe fürs Schreien an: "Weinen zeigt auch Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Eltern und ihrem Baby an. Der Säugling hilft ihnen, im täglichen Umgang mit ihrem Kind den richtigen ,Stil’ zu finden. Ist Sand im Getriebe dieser intuitiven Abstimmung, weint das Baby häufig." Oft werden Säuglinge zum Schreien aber auch regelrecht angesteckt, wenn ein anderes Baby in ihrer Nähe weint. Die Wissenschaft nimmt an, dass sie dadurch bei der Verteilung von Nahrung, Schutz oder Trost - die direkt im Anschluss an das lautstarke Gebrüll folgen - nicht leer ausgehen wollen.

Den Höhepunkt erreichen Babys im Alter von sechs Wochen. Dann haben sie häufig einen Weinanfall pro Tag, der mehrere Stunden dauern kann. Nach der sechsten Woche nimmt laut Solter das Weinen langsam ab. Und je älter das Kind wird, desto länger kann es das Weinen aufschieben. In diesem Zusammenhang nennt die Psychologin einen interessanten Punkt: "Viele Eltern merken, dass ihr Baby am Wochenende mehr weint als unter der Woche. Denn es spürt, dass die Eltern dann ansprechbar sind und nutzt das, um sein Weinen nachzuholen."

Für einen Säugling gibt es viele Faktoren, die ihn stressen können. Dazu gehören neben dem pränatalen Stress und Geburtstrauma auch Reizüberflutung, Frustrationen innerhalb der Entwicklung und beängstigende Erlebnisse. So haben Studien gezeigt, dass Babys von Müttern, die eine schwere Geburt hatten, meistens mehr weinten als Kinder, deren Mütter eine angenehme Entbindung erlebt hatten. Andere Studien belegen auch, dass Babys, die mit Komplikationen auf die Welt kamen, mit drei Monaten länger am Stück schreien und in den ersten 14 Monaten auch öfter aufwachen.

Und auch den Stress der Eltern nehmen die Kleinen bereits wahr. So fanden deutsche Wissenschaftler heraus, dass Babys häufiger extrem viel weinten, wenn die Eltern Beziehungsprobleme haben oder die Mutter unter psychischen Belastungen leidet. Zwar war der elterliche Stress nicht die Ursache für das Weinen, doch insgesamt entwickelt sich ein Teufelskreis: "Das Weinen verstärkt den Stress der Eltern, was wiederum das Baby weiter verängstigt und es immer häufiger weint", berichtet Solter.

Ein häufiges Alltagsproblem sind die vielen Reize, die selbst Erwachsenen oft zu viel werden. Säuglinge sind täglich einer Fülle von neuen Eindrücken ausgesetzt, die sie verarbeiten müssen. "Neugeborene versuchen, einen Sinn aus all den neuen Erfahrungen zu ziehen. Gelingt ihnen das nicht, fühlen sie sich schnell überfordert und werden unruhig", sagt Solter. Besonders laute Geräusche und grelles Licht überfordern die Kleinen.

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