Mann oder Frau - oder was? - Das Ringen um das dritte Geschlecht

Hannover (dpa) - Nicht jeder Mensch wird als Mann oder Frau geboren. Rund 80 000 Deutsche leben ohne klar bestimmbares Geschlecht. Die Intersexuellen kämpfen für ihre Rechte und eine stärkere Aufklärung.

Mann oder Frau - oder was? - Das Ringen um das dritte Geschlecht
Foto: dpa

Bei der Anrede von Lucie Veith gerät man ins Stocken. „Ich bin weder Herr noch Frau, sondern irgendwas dazwischen“, erklärt sie und schüttelt die Hand. „Ich bin einfach Lucie Veith. Das ist ja auch nicht so schlimm.“ Die 58-Jährige aus dem niedersächsischen Neu Wulmstorf wurde ohne klar bestimmbares Geschlecht geboren. Man dürfe sie aber mit dem weiblichen Pronomen „sie“ bezeichnen. Veith ist eine von mehr als 80 000 Intersexuellen in Deutschland. Nach wie vor kämpfen die Menschen zwischen den Geschlechtern um Anerkennung in der Gesellschaft.

Auf dem 1. Niedersächsischen Fachtag zur Intersexualität in Hannover beschäftigten sich 90 Teilnehmer mit der Lebenssituation intersexueller Menschen in Deutschland. „Wir werden in eine zweigeschlechtliche Welt gesteckt, in der wir uns nicht wiederfinden“, sagt Veith, die den Bundesverband Intersexuelle Menschen leitet. Dabei existierten auf der Bandbreite zwischen Mann und Frau 4000 wissenschaftlich anerkannte Variationen. „Intersexuelle werden bundesweit benachteiligt, das ist nicht nur in Niedersachsen so.“ Den Betroffenen geht es um Aufklärung und Gleichberechtigung in Schulen, Behörden und Verwaltung.

Anja Kumst wurde als Mädchen mit männlichen Genen geboren. „Mit Chromosomensatz XY statt XX“, berichtet die 44-Jährige. Sie fühlt sich weder als Mann noch als Frau, ist mit einem Mann verheiratet und geht aus Gewohnheit aufs Damenklo. Erst mit 17 wurden ihre außergewöhnlichen Anlagen festgestellt, weil sich die Pubertät nicht zeigen wollte. Ihre Hoden wurden damals entfernt, seit Jahren wird Kumst mit Hormonen therapiert. Ihr Alltag birgt Herausforderungen. „Schon wenn ich im Supermarkt mit Karte bezahle und unterschreiben soll, glauben mir die Leute nicht“, sagt Kumst. Mit flaumigem Bart und Brustansatz werde sie häufig auf der Frauentoilette angesprochen, ob sie sich verlaufen habe. Bei der Bundestagswahl hätten Wahlhelfer ihren Personalausweis nicht akzeptieren wollen, erzählt sie.

„Keiner versteht diese Probleme, weil ein intersexuelles Bewusstsein fehlt“, sagt Veith. Vielen Menschen sei Intersexualität noch immer kein Begriff. „Die Öffentlichkeit soll mitbekommen, dass es diese Menschen gibt und dass sie Bedürfnisse haben.“ Die meisten Intersexuellen lebten völlig unauffällig, wollten aber ein diskriminierungsfreies Leben führen. So gewährten Krankenkassen nur geschlechterspezifische Leistungen für Männer und Frauen. Die Intersexuellen wollen ein Recht auf ein eigenes Geschlecht.

Besonders problematisch sehen Betroffene die frühzeitige medizinische Behandlung zwischengeschlechtlicher Kinder. Verbände lehnen operative Eingriffe zur Geschlechterbestimmung wie die Hoden-Entfernung als menschenrechtswidrig ab. „Das Kind wird geboren, die Ärzte runzeln die Stirn, die Eltern sind verzweifelt“, sagt Michael Wunder, der die Arbeitsgruppe Intersexualität im Deutschen Ethikrat leitete. „Und es gibt eine Hülle und Fülle an Operationen.“

Das Land Niedersachsen will die Beratung und Selbsthilfe von Intersexuellen nun mit 40 000 Euro im Jahr fördern. Auch auf Bundesebene gibt es etwas Bewegung: Das Geschlecht neugeborener Kinder muss in Deutschland auf Empfehlung des Ethikrats seit November 2013 nicht mehr kurz nach der Geburt festgelegt werden. „Man muss es bis zum einwilligfähigen Alter offen lassen“, sagt Wunder. Die Intersexuellen fordern nun auch für Erwachsene eine klare dritte Kategorie, wie sie beispielsweise seit vergangenem Sommer in Australien möglich ist. „Aber die Rechtslage ist noch völlig ungeklärt“, kritisiert Veith.

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