Prozessbegleiter Wie Opfer von Gewalttaten einen Prozess überstehen

Monika Bulin begleitet Opfer im Strafverfahren. Die Prozessbegleitung ist noch nicht lang im Gesetz verankert.

Prozessbegleiter: Wie Opfer von Gewalttaten einen Prozess überstehen
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Düsseldorf. Seit Juli steht in Essen eine Gruppe junger Männer vor Gericht, die mindestens sieben Schülerinnen ins Auto gezogen und belästigt, fünf von ihnen vergewaltigt haben soll. Den jungen Opfern stehen während des Verfahrens Mitarbeiterinnen der Psychosozialen Prozessbegleitung zur Seite, teilt das Justizministerium mit. Hinter diesem Begriff versteckt sich eine der jüngsten rechtlichen Errungenschaften im Opferschutz — und eine langwierige, sensible Arbeit, erklärt Prozessbegleiterin Monika Bulin.

Frau Bulin, wie sehen die Fälle aus, die Sie bei Ihrer Arbeit begleiten?

Monika Bulin: Wir Prozessbegleiterinnen beim Verein Rückhalt und im Aachener Verbund Psychosoziale Prozessbegleitung sind spezialisiert: Eine Kollegin etwa betreut Fälle häuslicher Gewalt, Frauen und Männer — ich vor allem Sexualdelikte und weibliche Betroffene, auch Kinder. Generell sind die Menschen, denen wir beigeordnet werden, Opfer schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten. Und meist Frauen.

Wie läuft eine Begleitung durch das Verfahren ab?

Bulin: Wir sind für das gesamte Verfahren — also bereits im Ermittlungsverfahren — beigeordnet. Oft wenden sich die Opfer — obwohl ich das Wort nicht gerne benutze — direkt an uns, weil sie nicht allein zur Polizei wollen. Dann sind wir vor der Anzeige schon dabei. Wir helfen bei der Vereinbarung eines Termins für die Vernehmung und können etwa dafür sorgen, dass sie durch eine Polizistin erfolgt. Wir informieren aber auch, wie es nach der Anzeige weitergeht, und klären auf, dass man sie bei einer schweren Straftat nicht einfach zurücknehmen kann. Viele wissen das nicht. Es geht nicht darum, abzuschrecken. Aber die Betroffenen müssen wissen, was auf sie zukommt.

Worüber sprechen Sie genau mit den Frauen?

Bulin: Wir erörtern keine Tatdetails. Das ist gesetzlich sogar geregelt, und für eine kompetente Begleitung muss ich von der Tat nur so wenig wie möglich wissen. Außerdem: Ich habe kein Zeugnisverweigerungsrecht. Ein Verteidiger könnte mich also als Zeugin aufrufen und im Prozess befragen — und das ist Zeit, in der ich nicht bei der Frau sein kann. Als anerkannte Prozessbegleiterinnen sind wir dazu da, die Frauen zu stützen, so dass sie aussagefähig sind.

Das heißt konkret?

Bulin: Zum Teil kennen wir uns ja schon Monate, bevor die Verhandlung losgeht. Ich bin bei der Polizei dabei, sitze neben den Frauen. Ich habe Taschentücher und Traubenzucker dabei, etwas zu trinken. Oft kommen sie völlig nüchtern und sind sehr aufgeregt. Ich frage die Zeugin vorher, ob es für sie hilfreich sein könnte, wenn ich beispielsweise während der Vernehmung ihre Hand oder ihren Arm berühre, um sie zwischendurch ans Atmen zu erinnern — das vergessen viele. Vor dem Prozess besichtigen wir dann auch mal den Gerichtssaal vorab oder schauen uns den jeweiligen Richter oder die Richterin in einer anderen Verhandlung an. Dann kennen die Frauen den Ort, ein Gesicht. Alles, was ich vorher weiß, macht mir in der Situation weniger Angst.

Das klingt, als begleiteten Sie manche Frauen sogar Jahre ...

Bulin: Ja! Schnell geht es, wenn der Täter bekannt und in Untersuchungshaft ist. Bleibt er aber auf freiem Fuß — und das ist die Regel — dauert es ein Jahr, anderthalb Jahre, bis die Verhandlung losgeht. Ich habe auch schon drei Jahre zwischen Anzeige und Prozess erlebt.

Für die Frauen muss das eine immense Belastung sein. Sind Sie in dieser Zeit auch so etwas wie eine Therapeutin?

Bulin: Nein, psychosoziale Prozessbegleitung und psychologische Beratung oder Therapie trennen wir — wie es das Gesetz auch vorschreibt — ganz strikt. Ich vermittle aber bei Bedarf an eine andere Beraterin oder Kollegin.

Können Sie anonymisiert einen Fall aus Ihrer Praxis schildern?

Bulin: Einen negativen oder positiven?

Wieso?

Bulin: Weil es bei sieben oder acht von zehn angezeigten Sexualstraftaten nicht zum Verfahren kommt, weil die Beweislast nicht ausreicht. Das ist Realität und auch eine kritische Botschaft ...

Dann einen Fall mit positivem Ausgang, der Mut macht.

Bulin: Ich habe in Aachen eine Frau begleitet, die überfallen und vergewaltigt wurde. Der Täter wurde nicht gefasst, die Polizei wusste aber, dass es wohl ein Serientäter war. Die Frau hatte schon fast damit abgeschlossen, als der Mann doch noch verhaftet wurde, weil er wieder straffällig war. Das öffentliche Interesse war sehr groß — aber die Zeugin, der ich beigeordnet war, wollte keinesfalls mit dem Verfahren öffentlich in Verbindung gebracht werden.

Was konnten Sie tun?

Bulin: Ich habe mit der Staatsanwaltschaft und Richterin vorbesprochen, dass die Frau zu ihrer Aussage in den Saal gelangt, ohne an der Presse vorbei zu müssen. Die größte Hürde für die Betroffenen ist immer Scham. Da sitzen dann in der Regel elf Prozessbeteiligte, die alles mitanhören — darunter der Angeklagte. Aber in diesem Fall hat alles geklappt und die Zeugin konnte gut aussagen.

Wie geht es danach weiter?

Bulin: In der Regel halte ich mit den Zeuginnen auch noch nach ihrer Aussage Kontakt. Oft begleite ich sie auch zur Urteilsverkündung, weil das eine gute Basis sein kann, das Erlebte aufzuarbeiten. In diesem Fall ging das nicht, da die Medien nur während der Aussagen ausgeschlossen waren.

Halten Sie auch über das Urteil hinaus die Verbindung?

Bulin: Das ist unterschiedlich. Es gibt Frauen, die sich immer wieder melden. Oft rutschen sie noch einmal in eine Krise und wenden sich dann mit der Suche nach Hilfe an mich. Ich kenne sie teilweise ja sehr lange. Schön ist, dass viele zurückmelden, wie gut ihnen die Begleitung getan und dass sie ihnen Sicherheit gegeben hat.

Springen manche denn trotz Ihrer Hilfe ab und verweigern die Aussage?

Bulin: Selten, ehrlich gesagt. Oft denken die Frauen vorher, dass sie es nicht schaffen. Aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten Zeuginnen durch die Unterstützung so stabilisiert waren, dass sie ihre Aussage gut bewältigen konnten. Ich habe über die Jahre mindestens 200 Frauen begleitet — vielleicht zwei oder drei von ihnen haben die Aussage nicht geschafft. Aber es ist sehr anstrengend für die Opfer. Sie erwarten, erleichtert zu sein, wenn alles raus ist. Aber sie sind immer nur erschöpft wie nach einem Marathonlauf.

Auch für Sie muss das anstrengend sein. Ist es besonders schwierig, wenn Sie Kinder betreuen?

Bulin: Es macht mich sehr betroffen, weil Kinder in besonderer Weise schutzbedürftig sind. Aber die Arbeit ist im Grunde einfacher, weil Kinder viel natürlicher mit dem Erlebten und der Situation umgehen. Und auch, weil sie in diesem System ganz anders geschützt werden.

Anders also als erwachsene Opfer in Deutschland?

Bulin: In den letzten Jahren gab es viele Reformen zum Opferschutzgesetz. Die Prozessbegleitung ist ja auch erst seit 2017 gesetzlich verankert. Bis dahin wurden wir nicht offiziell beigeordnet, hatten also keine offizielle Stellung im Verfahren. Anderthalb Jahre gibt es jetzt einen Anspruch auf Begleitung für die Opfer — und mitunter sogar kostenfrei. Das ist nicht lange. Das Gesetz zur Psychosozialen Prozessbegleitung ist ein gutes Signal, weil sich so auf längere Sicht auch im Bewusstsein der Menschen etwas ändert.

Es ist also noch nicht alles erreicht in Sachen Opferschutz?

Bulin: Das größte Manko ist, dass die Gerichte schwer überlastet sind und die daraus resultierenden langen Wartezeiten. Opferanwälte raten zudem, bis zum Abschluss des Verfahrens keine Therapie zu machen, weil diese natürlich die Sicht auf die Tat, die Erinnerung, verändert. Das macht Aussagen anfechtbar. Es bedeutet aber: Die Betroffenen können in dieser Zeit nicht mit ihren Erlebnissen abschließen. Das Damoklesschwert schwebt permanent über ihnen.

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