Ukraine-Krieg Bundeskanzler Olaf Scholz reiste mit Sonderzug nach Kiew – Besuch in zerstörtem Irpin

Berlin/Kiew · Und er reist doch: Monatelang ist über einen Besuch des Kanzlers in Kiew diskutiert worden. Am Donnerstag, 16. Juni, war Olaf Scholz da. Die Erwartungen hat er selbst hochgeschraubt. Kann er sie erfüllen?

 In zerstörten Kiewer Vorort Irpin: Unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Donnertag, 16. Juni, in die Ukraine gereist.

In zerstörten Kiewer Vorort Irpin: Unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Donnertag, 16. Juni, in die Ukraine gereist.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Was hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Gepäck, wenn er nach Kiew reist? Ganz banal lautet die Antwort erst einmal: Schokoriegel, Gummibärchen und Spätburgunder aus Baden – was man eben so braucht, um eine knapp zehnstündige Zugfahrt zu überstehen. Jörg Kukies und Jens Plötner, die Berater des Kanzlers für Wirtschaft und Außenpolitik, schleppen am späten Mittwochabend die Kisten mit Verpflegung über den düsteren Bahnsteig in Przemysl, dem südpolnischen Grenzort zur Ukraine, wo die wohl spektakulärste und vielleicht auch bedeutendste Reise des Kanzlers in seiner politischen Karriere ihren Lauf nimmt.

Scholz muss in Polen von seinem Regierungsflieger auf den Zug umsteigen, weil der Luftraum über der Ukraine wegen des Krieges seit fast vier Monaten gesperrt ist. Den beschwerlichen Landweg haben in den ersten Kriegsmonaten etliche Spitzenpolitiker nach Kiew genommen, um dem von Russland angegriffenen Land ihre Solidarität zu bekunden - vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda über die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi bis zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die schon zwei Mal dort war.

Draghi an der Spitze des Zuges – Scholz ganz hinten

Diese Reise stellt aber alle bisherigen in den Schatten: Die Chefs der drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder der Europäischen Union machen sich zusammen auf den Weg durch das Kriegsgebiet: Neben Scholz sind Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dabei. Alle drei Länder sind Mitglied der G7 demokratischer Wirtschaftsmächte, deren Vorsitzender Scholz derzeit ist. Frankreich hat die EU-Ratspräsidentschaft. In Kiew soll noch der rumänische Präsident Klaus Iohannis dazustoßen - als Vertreter der osteuropäischen Länder, die sich besonders von Russland bedroht fühlen.

Auf den Gleisen steht ein blauer Sonderzug bereit. Neun Waggons, für jedes Land drei. Draghi darf sich an die Spitze des Zuges setzen, Scholz hat sein Abteil ziemlich weit hinten. In der Mitte lädt Macron kurz hinter der ukrainischen Grenze zum Sechs-Augen-Gespräch in seinen Salon-Wagen. Die Stimmung ist gut, es wird sogar gelacht.

Kein „kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin“

Es geht nun um die Frage: Was hat Europa für die Ukraine im Gepäck, die sich seit vier Monaten tapfer gegen den russischen Angriffskrieg zur Wehr setzt. Scholz selbst hat die Latte dafür recht hoch gesetzt. „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge“, hatte er seine Zurückhaltung mit Blick auf eine Kiew-Reise einmal erklärt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Vorlage des Kanzlers kurz vor der Reise aufgenommen. „Wir möchten auch nicht, dass er nur zu einem Foto-Termin kommt“, sagte er in einem ZDF-Interview. „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt.“

Besichtigung einer verkohlten Kriegsruine in Irpin

Die Ukrainer wollen vor allem über zwei „ganz konkrete Dinge“ sprechen: Waffen für den Kampf gegen die russischen Angreifer und die Kandidatur für eine EU-Mitgliedschaft. Bevor es in Selenskyjs Marienpalast darum geht, machen sich die Gäste ein Bild von den Zerstörungen im Vorort Irpin. Ähnlich wie im benachbarten Butscha, durch das Scholz auf dem Weg dorthin fährt, wurden dort nach dem Rückzug der russischer Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden. Der ukrainische Minister für regionale Angelegenheiten, Oleksij Tschernyschow, führt ihn und die anderen an der verkohlten Ruine eines Wohnhauses vorbei. Davor haben sie für die Gäste Fotos mit den Zerstörungen aufgebaut.

Scholz geht mit versteinerter Miene an der Ruine vorbei. „Das sagt sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist“, sagte er. Die Zerstörungen in Irpin seien ein „ganz wichtiges Mahnmal“ dafür, dass etwas zu tun sei. Macron umarmt am Ende der Führung Tschernyschow spontan. Solche Worte und Gesten tun den Ukrainern gut. Aber sie wollen eigentlich etwas anderes von Scholz und Macron: Taten.

Ukrainer wollen Waffen und EU-Perspektive

Es geht um zwei „ganz konkrete Dinge“ bei dieser Reise: Waffen – Die Ukraine fordert sie für ihren Abwehrkampf gegen die russischen Streitkräfte. Ein Berater von Selenskyj hatte kürzlich erklärt, die Ukraine brauche 1000 schwere Artilleriegeschütze (Haubitzen), 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 gepanzerte Fahrzeuge und 1000 Drohnen, um den Krieg gegen die russischen Angreifer zu gewinnen. Selenskyj selbst hat immer wieder die Lieferung moderner Luftabwehrsysteme gefordert. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, verlangt Kampf- und Schützenpanzer von der Bundesregierung.

Scholz ist in seiner Rede in der Generaldebatte des Bundestags Anfang Juni allerdings bereits bis an seine Schmerzgrenze gegangen, was die Waffenlieferungen angeht. Er versprach Mehrfachraketenwerfer, ein modernes Luftabwehrsystem vom Typ Iris-T und das Ortungsradar Cobra. Weitere größere Ankündigungen wären eine Überraschung.

Und den EU-Beitritt: Bei diesem Thema ist schon eher etwas möglich. Die Ukraine dringt darauf, dass die EU sie nächste Woche beim Gipfel in Brüssel zum Beitrittskandidaten macht. Die Kommission gibt am Freitag ihre Empfehlung ab. Von der Leyen hat allerdings nach ihrem Kiew-Besuch am vergangenen Freitag sehr deutlich gemacht, dass es ein Ja werden dürfte. „Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren, wenn wir zurückblicken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben.“ Die Herausforderung werde sein, aus dem EU-Gipfel mit einer einheitlichen Position hervorzugehen, „die die Tragweite dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt“.

Draghi zählt zu den Befürwortern des Kandidatenstatus, Scholz und Macron bisher noch zu den Skeptikern. Sie könnten nun in Kiew ein Zeichen setzen mit Blick auf den Gipfel setzen. Die Entscheidung muss dann aber einstimmig gefällt werden.

Erstes Ergebnis: Diskussion um Kiew-Reisen ist beendet

Eines wird der Kanzler mit seiner Reise aber auf jeden Fall erreichen: Die Diskussion über eine Scholz-Reise nach Kiew wird ein Ende haben. Die ukrainische Bahngesellschaft hat in den Gängen des Zuges Werbeplakate ausgehängt, auf denen eine Auswahl der Kiew-Reisenden zu sehen ist. Überschrift: „Eisenbahn-Diplomatie“. Darauf sind zwei deutsche Spitzenpolitiker aus Berlin zu sehen: CDU-Chef Friedrich Merz, ganz unten rechts, und etwas weiter oben Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). Das Plakat dürfte wohl bald ersetzt werden.

(dpa)
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