Regierungskrise Seehofer, Merkel und die Flüchtlingsfrage: Zwei Dampfloks auf Kurs Frontal-<br>zusammenstoß

Die Flüchtlingsfrage wird zum Prüfstein für die Union. Seehofer droht Merkel mit einem Alleingang. Das ist eine dramatische Zuspitzung im Streit der Schwesterparteien.

 Angela Merkel.

Angela Merkel.

Foto: Michael Kappeler

Berlin. Am Dienstag noch drängte sich das Bild einer Lokomotive auf, die mit Volldampf auf eine Frau zurast, die leichtsinnig die Gleise blockiert: Angela Merkel. Denn in der gemeinsamen CDU/CSU-Fraktionssitzung war keiner der Kanzlerin in ihrem Flüchtlingskurs gefolgt. Am Donnerstag tagten CDU und CSU getrennt und nun gibt es ein anderes Bild. Jetzt rasen zwei Lokomotiven mit Volldampf aufeinander zu. Die eine steuert die CDU-Chefin, die andere der CSU- Innenminister Horst Seehofer. Einer von beiden wird nächste Woche politisch dran glauben müssen — wenn nicht irgendwer noch die Notbremse zieht.

Es roch im Reichstag so stark nach Regierungskrise wie seit der Vertrauensfrage von Gerhard Schröder im Jahr 2001 nicht mehr. Hunderte von Journalisten vor dem Sitzungssaal der Union, Live-Schaltungen. Ein Bundestag der seine Sitzung unterbrach, für dreieinhalb Stunden. Ein CDU-Fraktionschef Volker Kauder, der völlig von der Rolle ein paar Journalisten, die sich dem Eingang zu sehr genähert hatten, mit persönlichem Körpereinsatz wegdrängte. „Gehen Sie weg hier, das hier ist Fraktionsbereich“.

Kauder ist nach Meinung nicht weniger Christdemokraten mit Schuld an dem Desaster. „Totales Versagen“, sagte ein Fraktionsmitglied. Denn bei der Sitzung am Dienstag hatte er die Debatte einfach laufen lassen, nicht eingegriffen. Mit dem Ergebnis, dass sich nur die meldeten, die Merkels Flüchtlingskurs ablehnten. Was die CSU ermunterte, noch härter aufzutreten. Sogar eine Vertrauensfrage Merkels lag in der Luft. Hinter verschlossenen Türen versuchte Kauder seinen Fehler am Donnerstag wieder gut zu machen. Er erklärte sein Schweigen damit, dass er Seehofers „Masterplan Migration“ bis Dienstag gar nicht bekommen habe. Der Innenminister habe Merkel ausdrücklich um Vertraulichkeit gebeten. Und deswegen habe er nichts sagen können. Die Abgeordneten aller Parteien hatten das Papier übrigens am Donnerstag noch nicht. Auch nicht der Koalitionspartner SPD.

Aber auch Angela Merkel hatte bei der ersten Sitzung weitgehend geschwiegen. Jetzt erklärte sie gleich zu Beginn sehr offensiv ihre Position. Schon morgens hatte sie sich in einer Telefonschaltkonferenz dafür Rückendeckung im CDU-Präsidium geholt; nur ihr Rivale, Gesundheitsminister Jens Spahn, stimmte dort nicht zu. Sie wolle nicht, dass Europa in der Flüchtlingsfrage komplett auseinanderfalle. Und diese Gefahr bestehe, wenn Deutschland, wie von Seehofer geplant, an seiner Südgrenze Flüchtlinge zurückweise. Montag komme der neue italienische Ministerpräsident, Ende Juni sei der EU-Gipfel. Sie brauche zwei Wochen Zeit für eine europäische Lösung über den Umgang mit Menschen, deren Asylverfahren eigentlich in den Mittelmeer-Anrainerstaaten stattfinden müssten. Danach könne man eine Bestandsaufnahme machen und weiter entscheiden.

Schon am Vorabend hatte sie den Christsozialen diesen Kompromiss bei einem stundenlangen Spitzentreffen angeboten. Ohne Ergebnis. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wischte das Angebot auch am Donnerstag kühl vom Tisch: „Der Hinweis, sich später noch mal zu unterhalten, ist nicht ausreichend.“ Die CSU unterstütze die Bemühungen um eine europäische Lösung, könne darauf aber nicht warten. Bei den CDU-Abgeordneten aber bekam die Kanzlerin nun große Unterstützung. Fast 60 Abgeordnete meldeten sich zu Wort, 80 Prozent positiv. Den Ausschlag gab wie so oft in solchen Situationen Wolfgang Schäuble, der nach Merkel redete. Er warnte eindringlich vor einem Zerfall Europas und bot sich selbst als Vermittler für die Gespräche mit der CSU an.

Die tagte einen Saal weiter. Überhaupt war es seit der Griechenlandkrise das erste Mal, dass die Abgeordneten beider Parteien getrennt berieten. Eine Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft lag in der Luft. Denn die CSU lenkte keinen Millimeter ein. Söder, Seehofer und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt schworen die Christsozialen auf eine harte Linie ein. „Das ist das Endspiel um unsere Glaubwürdigkeit“, sagte Söder hinter verschlossener Tür — passend zur WM in Russland. „Wir müssen jetzt beweisen, dass wir für unsere Haltung stehen.“ Und Dobrindt verkündete hinterher: „Wir bleiben bei unserem Standpunkt.“ Es gehe darum, die Flüchtlingspolitik wieder „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Und zwar „nicht in langfristigen Zeitperspektiven“.

Was das in der Praxis bedeutet, verriet CSU-Landesgruppenvize Hans Michelbach: Seehofer soll schon nächste Woche die Grenzschließung in Kraft setzen, ohne Merkels Verhandlungsversuche abzuwarten. Als Innenminister sei er dazu befugt. Montag soll der CSU-Vorstand in München ihm den entsprechenden Auftrag geben. Falls Merkel nach zwei Wochen Erfolg habe, könne man immer noch neu überlegen. „Wir lassen uns jedenfalls nicht mehr auf die lange Bank schieben“. Ähnlich Dobrindt, der von einer „direkten Verantwortung“ des Innenministers sprach.

Käme es so, hätte Merkel praktisch nur noch die Möglichkeit, Seehofer wegen seines Alleinganges als Minister zu entlassen. Das wäre dann der völlige Bruch zwischen CSU und CDU. Und das Ende der Koalition. Ob er dieses Risiko nicht sehe, wurde Michelbach gefragt. „Wir stehen einmütig hinter unserem Minister“, lautete seine lapidare Antwort. Die Lokomotiven fahren.

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