Sorge um die Aushöhlung des Asylrechts

Oliver Ongaro von der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative „Stay!“ zur Diskussion um sichere Herkunftsländer und die Abschiebepraxis in Deutschland.

Oliver Ongaro von der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative „Stay!“ bereitet die wachsende Stimmung pro Abschiebung große Sorge. (Archivfoto)

Oliver Ongaro von der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative „Stay!“ bereitet die wachsende Stimmung pro Abschiebung große Sorge. (Archivfoto)

Foto: Lepke, Sergej (SL)

Düsseldorf. Der Fall Anis Amri und die vergeblichen Bemühungen, ihn außer Landes zu bringen, haben in NRW die Debatte um sogenannte sichere Herkunftsstaaten wieder befeuert. Wiederholt forderten CDU und FDP die rot-grüne Landesregierung in den vergangenen Wochen auf, im Bundesrat den Weg für die entsprechende Einstufung der Maghreb-Länder freizumachen. Oliver Ongaro von der Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative „Stay!“ bereitet die wachsende Stimmung pro Abschiebung große Sorge.

Herr Ongaro, wie nehmen Sie die aktuelle Debatte um sichere Herkunftsstaaten wahr?

Oliver Ongaro:
Kritisch. Für uns bedeutet die Einstufung, dass es quasi unmöglich wird, einen Asylantrag zu stellen. Aber im Einzelfall kann die Notwendigkeit von Asyl doch weiterhin belegt werden.

Ongaro: Es gibt aber sehr harte Einspruchsfristen. Eine Woche bleibt Zeit, um alle Beweise zusammenzutragen, dass man im Heimatland verfolgt wird. Das finde ich sehr schwierig. Also stört Sie, dass der Antragsteller stärker in die Beweispflicht genommen wird als bisher?

Ongaro:
Marokko etwa ist keine Demokratie, sondern ein Königreich — dazu der Westsaharakonflikt. Tunesien ist seit erst zwei Jahren demokratisch, da ist vieles noch gar nicht absehbar. In Algerien gibt es sogar immer wieder bewaffnete Widerstände. Trotzdem wird ohnehin kaum ein Asylantrag aus diesen Ländern positiv beschieden. Die Einstufung als „sicher“ erscheint mir eher als ein Trick für die Öffentlichkeit.

Warum kommen die Menschen aus den nordafrikanischen Ländern denn, wenn sie ohnehin keine Bleibeperspektive haben?

Ongaro:
Das ist ganz viel Armutsmigration. Wir haben aber zudem viele Homosexuelle, die in diesen Ländern wirklich verfolgt werden — das ist sehr schlimm. In Einzelfällen gelingt es da auch mal, Asyl durchzusetzen.

Inzwischen werden auch Menschen nach Afghanistan abgeschoben, weil der Krieg dort vorbei sei. Wie sehen Sie das?

Ongaro:
Die Situation dort ist sogar wieder viel krasser geworden. Sobald die jungen Männer 16, 17 werden, müssen die kämpfen — egal auf welcher Seite. Ich verstehe nicht, warum sich die deutsche Politik so unter Druck setzen lässt, dass wir jetzt in solche Kriegsgebiete abschieben. Weil die AfD bei zwölf bis 14 Prozent ist? Jetzt sollen vor allem junge Männer plötzlich alle raus. Aber warum sind denn so viele gekommen? Weil die Familien ihre jungen Männer vor dem Zwang zum Krieg schützen wollen.

Haben Sie weiter verfolgt, was aus Afghanen, die Sie bei „Stay!“ betreut haben, nach der Abschiebung geworden ist?

Ongaro: Ja, teilweise. Bei einer Familie, die aus NRW zurückgeschoben wurde, ist der Sohn direkt sehr schwer verwundet worden. Solche Geschichten hören wir immer wieder. Auch von Abgeschobenen, die erschossen wurden.

Erfahrung mit sogenannten sicheren Staaten haben wir auch innerhalb Europas — wie Kosovo, Mazedonien, Bosnien ... Ist sicher gleich sicher?

Ongaro:
Das Problem ist, dass die Menschen aus diesen Ländern kein Asyl hatten, sondern Bürgerkriegsschutz. Also sollten sie zurück, sobald der Krieg vorbei war. Aber bei der Minderheit der Roma etwa werden in vielen dieser Herkunftsländer bis heute keine Bürgerrechte anerkannt — sie haben keinen Zugang zu Bildung oder dem Gesundheitswesen. Das heißt, wir schicken die Menschen in ein Land, in dem sie keine echten Staatsbürger sind. Wir hatten eine Düsseldorfer Roma-Familie, die nach Mazedonien abgeschoben wurde — der Vater war dort staatenlos, die Kinder durften nicht zur Schule gehen. Als er Hodenkrebs bekam und dort nicht behandelt wurde, lief er den gesamten Weg zurück nach Deutschland. Jetzt leben sie hier, alle Kinder können die Schule besuchen.

Was stört Sie an der Entwicklung am meisten?

Ongaro:
Dass die demokratischen Regularien immer weiter eingeschränkt werden, letztlich unser Grundgesetz ausgehöhlt wird. Wenn ich demnächst eine Bloggerin aus Marokko in der Beratung habe, die den König beleidigt hat und verfolgt wurde, wird ihr Asylantrag wohl erst mal direkt abgelehnt. Und Entscheidungen von dieser Tragweite werden aus einer politischen Debatte heraus eben mal so gefällt. Wegen Silvester in Köln, wegen Amri. Das halte ich für Propaganda. Wir denken, wir treffen die anderen — aber wir treffen uns selbst. Wir zertrümmern unsere eigenen Werte. Und mich stört, dass für Vorfälle jetzt ganze Gruppen verantwortlich gemacht werden. Alle haben Angst vor ausländischen jungen Männern. Die sollen weg. Diese Stimmungsmache ist nicht gut für unsere Gesellschaft. Haben wir denn nichts dazugelernt in den letzten 50 Jahren?

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